Im Schatten des Schloessli
ihrer Beschämung musste sich Flora eingestehen, dass sie es nicht wusste.
«Du kommst gerade richtig, das Essen ist fertig», sagte Stephan, ohne sich umzuwenden. Er nahm einen orangefarbenen Ikea-Teller aus dem Schaft, hievte das erste von zwei Steaks darauf, gab eine gehäufte Kelle Nudeln und einige Bohnen dazu und streute abschliessend etwas Parmesan über die Pasta.
Flora stützte sich auf die Rückenlehne des futuristisch anmutenden Designerstuhls. «Erwartest du Besuch?»
Etwas im Tonfall ihrer Stimme liess Stephan aufhorchen. Er drehte den Kopf und musterte sie nachdenklich.
Flora erschrak. Sein Gesicht war aufgedunsen und teigig, mit dunklen Schatten unter den Augen.
«Nein, wir sind unter uns.» Er belud einen zweiten Teller, stellte die Bratpfanne in das Spülbecken und liess kaltes Wasser hineinlaufen.
Flora unterdrückte ein Schnauben. «Du glaubst nicht im Ernst, dass ich das esse?»
«Doch. Es wird Zeit, dass du mal wieder was Richtiges zwischen die Zähne bekommst. Als Arzt weiss ich, dass Veganismus zu ernsthaften Mangelerscheinungen führen und damit die Hirnfunktion massgeblich beeinträchtigen kann. Glaub mir, deine Hungerphantasien von dieser veganen Imbissbude sind ein ernst zu nehmendes Symptom. Für zwei Monate die Aussteigerin zu spielen und den Leuten auf der Strasse irgendwelchen Schnickschnack unterzujubeln, ist okay, aber den Stand zu kaufen –»
«Bist du eigentlich so ein Arschloch, oder tust du nur so?»
«Weisst du das nach all den Monaten, die wir zusammen sind, noch immer nicht?»
Auf diese Antwort war Flora nicht vorbereitet. Ich weiss genauso wenig von ihm wie er von mir, dachte sie.
Stephan schien etwas Ähnliches gedacht zu haben. «Wir müssen reden.»
«Das müssen wir allerdings. Was du über den Veganismus gesagt hast, ist einfach nur Schwachsinn.»
Stephan winkte ab. «Nicht darüber. Über …» Er stockte. «Über uns.»
«Gut. Reden wir. Aber nicht hier. Ausser du legst Wert darauf, dass ich dir deine Steaks vollkotze. In einer Viertelstunde im Kasinogarten. Beim Gartenschach.»
* * *
«Arrogantes Arschloch», hörte Stephan Rothpletz noch, dann fiel die Tür ins Schloss.
War er wirklich so arrogant, wie Flora dachte? Ein Arschloch, ja. Darum wollte er schliesslich mit ihr reden. Aber arrogant? Selbstgefällig? Besserwisserisch? Nein, das war er nicht. Eher feige. Warum nur hatte er nicht mit offenen Karten gespielt? Und warum hatte er sich von Veronica nochmals um den Finger wickeln lassen?
Der Schmerz im Unterleib kam so plötzlich, dass Stephan zusammensackte. Scheissehe, Scheissjob, Scheissbundesgerichtsurteil, Scheissmagengeschwür, dachte er. Ein Magendurchbruch fehlte ihm gerade noch. Der Arzt Stephan Rothpletz wusste, dass er sich dringend im Spital melden und seinen Bauchraum röntgen lassen sollte; brach die Magenwand durch, zählte jede Sekunde. Der Privatmann Stephan Rothpletz hingegen wollte erst mit Flora sprechen. Deshalb schleppte er sich ins Badezimmer, schälte seine Medikamente aus den Packungen und spülte die Kapseln mit viel Wasser hinunter.
Von seiner Wohnung bis zum Kasinogarten waren es kaum hundert Meter. Stephan liebte den kleinen Park am Rand der Altstadt – weniger seiner Rasenflächen wegen, als wegen seiner mächtigen Bäume. Heute aber schenkte er den blättrigen Riesen keinen Blick. Wie in Trance wankte er zwischen der Ludothek und der Stadtbibliothek hindurch über das kurz geschnittene Gras Richtung Gartenschach. «Ich hätte nie gedacht, einmal so froh über eine Parkbank zu sein», sagte er, als er bei Flora ankam. Seine Stimme klang wie die eines Teenagers beim ersten Rendezvous: dünn und zittrig. Er zog ein Papiertaschentuch aus der Gesässtasche seiner Jeans und tupfte sich den Schweiss von der Stirn.
«Du siehst echt beschissen aus. Alles in Ordnung?»
«Nein. Ja. Ich weiss nicht.»
«Dein Magen?»
«Ich kann den Job bei der ‹Ökosana› nicht länger machen», griff Stephan das Thema dankbar auf. Er hatte Flora schon so lange etwas vorgespielt, da konnte die Wahrheit auch noch ein paar Minuten warten.
«Warum denn nicht?»
«Was würdest du sagen, wenn man dir ein Bundesgerichtsurteil auf den Tisch knallte mit dem Hinweis, dass es so was wie eine Verteilungsgerechtigkeit gibt?»
Flora schaute Stephan verständnislos an.
«Ich werd’s dir erklären. Die Schweiz ist zwar ein reiches Land, aber selbst hier liegt es nicht drin, dass die obligatorische Krankenkasse sämtliche Behandlungen bezahlt, die
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