Im Schneeregen
auf die Schneefallgrenze aus. Ein aufkommender Wind zum Beispiel oder wenn der Niederschlag stärker wird, das reicht aus, die Flocken in Minutenschnelle ein paar Hundert Meter tiefer ins Tal zu treiben. Sie müssen auf der Hut sein. Und gleichzeitig die Landschaft nach möglichen Auf- und Abstiegsvarianten absuchen, so können Sie auf temporale Verschiebungen unverzüglich reagieren. Dass Sie auf dieser Höhenwanderung bequem einem Weg folgen, ist so gut wie ausgeschlossen. Sie werden sich vielmehr durch den Jungwuchs kämpfen, dabei immer wieder ahnungsloses Wild aufscheuchen, aufgeweichte Wiesen queren, vom Vieh ausgetretenen Pfaden folgen. Sie dürfen keine Zeit verstreichen lassen. Sonst ist es Sommer, und schon blühen Margeriten und Vergissmeinnicht.
Alles ganz unverfänglich, nur etwas in den Schneeregen, eine kleine Exkursion, damit der Professor versteht, wovon er redet. Einen Begleiter kann er gebrauchen, Wandern ist mit gewissen Risiken verbunden, je länger man sich entlang der Aggregatsgrenze bewegt, desto größer die Gefahr, eine kleine Unachtsamkeit, ein Sturz, das kann schnell bedrohlich werden, da kann man dann lange warten, bis jemand vorbeikommt. Zuletzt stößt irgendjemand auf einen Leichnam. In einer Mulde, etwas verborgen hinter Altholz, könnte der Mann auf dem Waldboden liegen. Ein T -Shirt bedeckt den schmalen Körper nur unvollständig, bleiche Arme auf Wintergrün gebettet, ein Ellenbogen braun verfärbt, die Haut wie ein Schwamm aufgequollen, Fetzen, die sich ablösen. Der Mann liegt wie im Schlaf auf der Seite, die Beine etwas angewinkelt, den Kopf auf dem rechten Arm. Man müsste nähertreten, um in matte, grauweiße Augen zu blicken. Der Mund steht leicht offen, weiße Zähne sind zu sehen, gut heben sich die violetten Lippen davon ab. Die linke, sichtbare Gesichtshälfte ist grün verfärbt und zerschnitten, als hätte jemand mit einem Messer gespielt, Fraßspuren von Mardern vielleicht oder Füchsen, ein Wangenknochen schon freigelegt. Der Rumpf scheint intakt, womöglich hat ein Schneesturm das Mahl der Aastiere beendet. Man müsste darüber stolpern, um die Leiche zu entdecken, bei diesen Temperaturen läuft die Verwesung zu langsam ab, als dass einen der Geruch heranführen könnte. Wie lange es dauert, bis jemand zur Unkenntlichkeit zerfällt im Schneeregen? Die Frage können Sie sich stellen, wenn Sie im Wald stehen. Anfangs ist Ihnen kalt, doch je länger Sie sich in Schnee und Regen versenken, desto unempfindlicher werden Sie.
Schnee, der sich von einem Baumwipfel löst, schreckt sie beide auf. Wer weiß, wie lange sie dort gestanden haben. Um den Ärmel der Jacke hochzuziehen und die Uhrzeit abzulesen, sind die Finger zu klamm. Ohne miteinander zu reden, greifen sie nach den Rucksäcken, richten sich auf, schwanken davon, strecken die Arme aus, suchen Halt an den Stämmen, tasten sich vor, Schritt um Schritt, gleiten auf der durchnässten Erde aus, rutschen über körnig gepressten Schnee, bis sie auf den Weg zurückfinden.
Etwas nimmt mich wunder, sagt Gruber, wenn Sie im Schneeregen wandern, wie schnell sind Sie da unterwegs? Können Sie das sagen, ich meine so ungefähr?
Schwitter blickt ihn erstaunt an, doch bevor er etwas erwidern kann, fährt Gruber fort.
Ich meine, Sie können ja einfach so spazieren oder zügig schreiten, das ist ganz Ihnen überlassen. Oder gibt es da bestimmte Regeln?
Das Gleichgewicht, Herr Gruber, sagt Schwitter nach einer Pause und in ernstem Ton, auf das Gleichgewicht kommt es an, alles andere lässt sich davon ableiten.
Gruber zeigt sich zufrieden, er nickt. Ich möchte aber, fährt er fort, auf einen anderen Punkt hinaus. Wenn man im Schneeregen unterwegs ist, sagt er, so hängt es doch letztlich von der Geschwindigkeit ab, wie viel Schnee und wie viel Regen auf einen niedergehen.
Schwitter zögert. Unter diesem Aspekt hat er das noch nie betrachtet. Nass wird man so oder so, sagt er nach einer Weile, ob man nun schnell oder langsam geht. Und schließlich kommt es nicht auf die Menge an, sondern auf die Qualität, auf die Form der Flocken, auf die Größe der Regentropfen. Aber abgesehen davon, interessant ist sie schon, die Frage.
Zumindest zeitlos, erwidert Gruber. Wer kennt das Problem nicht. Man steht ohne Schirm im Regen und überlegt sich, ob es sich lohnt, schneller zu gehen. Die meisten rennen oder versuchen zumindest, sich zu beeilen.
Richtig, aber wenn man es sich genauer überlegt, wird es kompliziert.
Gruber zieht die
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