Im Schwarm - Ansichten des Digitalen
kreativen Schwarms vor: »Ist der telematische Mensch ein Anfang einer Anthropologie, die sagt, Mensch sein ist ein telematisches Verknüpft-Sein mit anderen, ein gegenseitiges Anerkennen zwecks Abenteuer der Kreativität?« 42 Flusser überhöht die Netzkommunikation immer wieder ins Religiöse. Die telematische Ethik der Vernetzung entspreche dem »Judenchristentum mit seiner Forderung der Nächstenliebe«. Flusser erblickt in der digitalen Kommunikation ein messianisches Potenzial, das sie dienstbar macht für das »tiefe, existenzielle Verlangen des Menschen nach Anerkennung des anderen und Selbsterkenntnis im anderen, kurz der Liebe im jüdisch-christlichen Sinne«. 43 Demnach stiftet die digitale Kommunikation eine Art Pfingstgemeinschaft. Sie befreit den Menschen aus dem für sich isolierten Selbst und schafft einen Geist, einen Resonanzraum: »Das Netz schwingt, es ist ein Pathos, es ist eine Resonanz. Das ist die Grundlage der Telematik, diese Sympathie und Antipathie der Nähe. Ich glaube, die Telematik ist eine Technik der Nächstenliebe, eine Technik zum Ausführen des Judenchristentums. Die Telematik hat Empathie als Basis. Sie vernichtet den Humanismus zugunsten des Altruismus. Allein dass diese Möglichkeit besteht, ist schon etwas ganz Kolossales.« 44 Die Informationsgesellschaft ist Flusser zufolge eine »Strategie« zum »Abschaffen der Ideologie von einem Selbst zugunsten der Erkenntnis, dass wir einer für den anderen da sind und keiner für sich selbst da ist«. Sie stellt eine »Abschaffung des Selbst zugunsten der intersubjektiven Verwirklichung« »automatisch« her. 45
Die digitale Vernetzung ist für Flusser kein Medium zwanghafter Suche nach Neuem, sondern der »Treue«, die der Welt »ein Aroma«, »einen spezifischen Duft« verleiht. Die digitale Kommunikation macht die Erfahrung einer beglückenden Nähe, den beglückenden Augenblick [kairos) möglich, indem sie jede raumzeitliche Distanz wegzaubert: »Das ist das Bild, das ich habe: Wenn ich mit meinem Freund in Sao Paulo telematisch kommuniziere, dann verbiegt sich nicht nur der Raum, und er kommt zu mir und ich zu ihm, sondern es verbiegt sich auch die Zeit, die Vergangenheit wird Zukunft, die Zukunft wird Vergangenheit, und beides wird gegenwärtig. Das ist mein Erleben der Intersubjektivität.« 46 Dieser Messianismus der Vernetzung hat sich nicht bewahrheitet. Die digitale Kommunikation lässt die Gemeinschaft, das Wir, vielmehr stark erodieren. Sie zerstört den öffentlichen Raum und verschärft die Vereinzelung des Menschen. Nicht die »Nächstenliebe«, sondern der Narzissmus beherrscht die digitale Kommunikation. Die digitale Technik ist keine »Technik der Nächstenliebe«. Sie erweist sich vielmehr als eine narzisstische Ego-Maschine. Und sie ist kein dialogisches Medium. Das Dialogische, von dem Flussers Denken durchgehend bestimmt ist, beherrscht sein Denken über die Vernetzung zu sehr.
Das Projekt, zu dem sich das Subjekt befreit, erweist sich heute selbst als Zwangsfigur. Es entfaltet Zwänge in Form von Leistung, Selbstoptimierung und Selbstausbeutung. Wir leben heute in einer besonderen historischen Phase, in der Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit ist eigentlich die Gegenfigur des Zwanges. Nun erzeugt diese Gegenfigur selbst Zwänge. Mehr Freiheit bedeutet damit mehr Zwang. Das wäre das Ende der Freiheit. So befinden wir uns heute in einer Sackgasse. Wir können weder vorwärts noch rückwärts. Diese verhängnisvolle Dialektik der Freiheit, die diese in ihr Gegenteil umschlagen lässt, entgeht Flusser vollständig. Dafür ist sein Messianismus verantwortlich. Die heutige Gesellschaft ist keine Gesellschaft der »Nächstenliebe«, in der wir uns gegenseitig realisieren. Sie ist eher eine Leistungsgesellschaft, die uns vereinzelt. Das Leistungssubjekt beutet sich selbst aus, bis es zusammenbricht. Und es entwickelt eine Autoaggressivität, die nicht selten in Selbsttötung mündet. Das Selbst als schönes Projekt erweist sich als Projektil, das es nun gegen sich selbst richtet.
NOMOS DER ERDE
Im Zuge des Digital Turn verlassen wir endgültig die Erde, die terrane Ordnung. Werden wir dadurch befreit von der Schwere und Unberechenbarkeit der Erde? Würde die digitale Schwerelosigkeit und Fluidität uns nicht vielmehr in eine Haltlosigkeit stürzen? Heidegger war der letzte große Verfechter der terranen Ordnung. Seine »Erde« lässt »jede nur rechnerische Zudringlichkeit in eine
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