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Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Titel: Im Schwarm - Ansichten des Digitalen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Byung-Chul Han
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Zerstörung umschlagen«. Die digitale Ordnung totalisiert gerade das Rechnerische oder das Additive. Die terrane Ordnung ruht auf festem Fundament. Ihr Gesetz heißt Nomos: »Der Sterblichen und der Unsterblichen Heiligen Herrscher rufe ich an, / Den himmlischen Nomos, den Ordner der Sterne; / Des salzrauschenden Meeres / Und der Erde heiliges Siegel, / Unwandelbares und Sicheres.« 47 Die digitale Ordnung verabschiedet den Nomos der Erde endgültig. Carl Schmitt lobt die Erde vor allem aufgrund ihrer Festigkeit, die klare Abgrenzungen und Unterscheidungen zulässt. Die terrane Ordnung besteht aus Mauern,
    Grenzen und Festungen. Auch der feste »Charakter«, der dem flexiblen Homo digitalis gänzlich abgeht, gehört zur terranen Ordnung. Das digitale Medium gleicht dagegen jenem »Meer«, in das sich »keine festen Linien eingraben« lassen. Es lässt »keinen Charakter in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Charakter« zu, »das von dem griechischen Wort diarassein, eingraben, einritzen, einprägen kommt«. 48
     
    Kategorien wie Geist, Handeln, Denken oder Wahrheit gehören in die terrane Ordnung. Sie werden durch die Kategorien der digitalen Ordnung zu ersetzen sein. An die Stelle der Handlung tritt die Operation. Dieser geht keine Entscheidung im emphatischen Sinne voraus. Das Zögern oder das Zaudern, das konstitutiv für das Handeln wäre, wird als eine operative Störung wahrgenommen. Es schadet der Effizienz. Operationen sind actomes, das heißt, atomisierte Handlungen innerhalb eines weitgehend automatischen Prozesses, denen die temporale und existenzielle Weite fehlt.
     
    Auch das Denken im emphatischen Sinne ist keine Kategorie des Digitalen. Es weicht dem Rechnen. Die Rechenschritte weisen eine ganz andere Gangart auf als das Denken. Sie sind abgesichert gegen Überraschungen, Brüche oder Ereignisse. Auch die Wahrheit wirkt heute anachronistisch angesichts der Transparenz. Sie lebt von der Negativität der Exklusion. Mit der Wahrheit wird im gleichen Zug die Falschheit gesetzt. Eine Dezision bringt das Wahre und das Falsche gleichzeitig hervor. Auch die Dichotomie von Gut und Böse beruht auf dieser narrativen Struktur. Sie ist eine Erzählung. Im Gegensatz zur Wahrheit ist die Transparenz nicht narrativ. Sie macht zwar durchsichtig, aber sie ist nicht erhellend. Das Licht ist dagegen ein narratives Medium. Es ist gerichtet und richtend. So weist es Wege. Das Medium der Transparenz ist die lichtlose Strahlung.
     
    Auch die Liebe ist in die Negativspannung des Hasses eingespannt. So bewohnt sie dieselbe Ordnung wie Wahr und Falsch oder Gut und Böse. Die Negativität unterscheidet sie vom Gefällt-mir, das positiv und daher akkumulierbar oder additiv ist. Sowohl den Facebook-Freunden als auch den Konkurrenten fehlt die Negativität, die den »Freund« vom »Feind« im Sinne von Carl Schmitt unterscheidet. Auch Nähe und Ferne gehören in die terrane Ordnung. Das Digitale vernichtet beide zugunsten der Abstandslosigkeit, die eine einfache Beseitigung von Distanz bedeutet. Abstandslosigkeit ist eine positive Größe. Ihr fehlt die Negativität, die die Nähe auszeichnet. Ihr ist die Ferne eingeschrieben. Der digitalen Kommunikation ist der »Schmerz der Nähe der Ferne« 49 fremd.
     
    Der Geist erwacht angesichts des Anderen. Die Negativität des Anderen erhält ihn am Leben. Wer nur auf sich selbst bezogen ist, wer in sich verharrt, ist ohne Geist. Den Geist zeichnet die Fähigkeit aus, »die Negation seiner individuellen Unmittelbarkeit, den unendlichen Schmerz zu ertragen«. 10 Das Positive, das jede Negativität des Anderen abstreift, verkümmert zum »toten Sein«. si Allein der Geist, der aus seiner »einfachen Beziehung auf sich« 52 ausbricht, macht Erfahrungen. Ohne Schmerz, ohne Negativität des Anderen, im Übermaß an Positivität, ist keine Erfahrung möglich. Man fährt überall hin, ohne zu einer Erfahrung zu gelangen. Man zählt endlos, ohne erzählen zu können. Man nimmt Kenntnis von allen Dingen, ohne eine Erkenntnis zu erlangen. Der Schmerz, dieses Schwellengefühl angesichts des Anderen, ist das Medium des Geistes. Geist ist Schmerz. Hegels Phänomenologie des Geistes beschreibt eine via dolorosa. Die Phänomenologie des Digitalen ist dagegen frei vom dialektischen Schmerz des Geistes. Sie ist eine Phänomenologie des Gefällt-mir.

DIGITALE GESPENSTER
    Kafka erscheint schon der Brief als ein unmenschliches Kommunikationsmedium. Er habe eine schreckliche Zerrüttung der Seelen

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