Im Schwarm - Ansichten des Digitalen
gehören nicht zum Habitus des Jägers. Die Informationsjäger sind ungeduldig und ohne Scheu. Sie lauern, statt zu »warten«. Sie greifen zu, statt die Dinge reifen zu lassen. Es gilt, mit jedem Klick Beute zu machen. Die totale Gegenwart ist ihre Zeitlichkeit. Alles, was ihnen die Sicht behindert, soll schnell aus dem Weg geräumt werden. Diese Totalsicht auf dem digitalen Jagdfeld heißt Transparenz. Jäger und Sammler von Informationen sind die Bewohner der Transparenzgesellschaft.
Die digitalen Informationsjäger werden unterwegs sein mit dem Google Glass. Diese Datenbrille ersetzt Speere, Bögen und Pfeile der paläolithischen Jäger. Das Google Glass verbindet das menschliche Auge direkt mit dem Internet. Sein Träger ist gleichsam allblickend. Es leitet das Zeitalter der Totalinformation ein. Das Google Glass ist kein Werkzeug, also kein »Zeug«, kein »Zuhandenes« im Heideggerschen Sinne, denn man nimmt es nicht in die Hand. Das Handy wäre noch ein Werkzeug. Das Google Glass rückt uns so sehr auf den Leib, dass es als ein Teil des Körpers wahrgenommen wird. Es vollendet die Informationsgesellschaft, indem es das Sein mit der Information vollständig zusammenfallen lässt.
Was keine Information ist, ist nicht. Dank der Datenbrille erreicht die menschliche Wahrnehmung eine totale Effizienz. Nicht nur mit jedem Klick, sondern auch mit jedem Blick macht man Beute. Das Sehen der Welt fällt mit dem Erfassen der Welt zusammen. Das Google Glass totalisiert die Jägeroptik, die alles ausblendet, was keine Beute, das heißt, keine Information verspricht. Das tiefere Glück der Wahrnehmung, des Sehens, aber besteht in deren Effizienzlosigkeit. Es entspringt dem langen Blick, der bei den Dingen verweilt, ohne sie auszubeuten.
VOM SUBJEKT ZUM PROJEKT
Heideggers Bauer ist ein Subjekt, was ursprünglich Unterworfensein (subject to, sujet ä) bedeutet. Der Bauer unterwirft sich dem Nomos der Erde. Die terrane Ordnung produziert Subjekte. Die »Geworfenheit« heißt die Grundverfassung der menschlichen Existenz nach Heidegger. Heute wird man Heideggers Existenzialontologie neu schreiben müssen, denn man glaubt nun, kein unterworfenes Subjekt, sondern ein sich entwerfendes, ja sich optimierendes Projekt zu sein. Die Entwicklung des Subjekts zum Projekt war gewiss bereits vor dem Einzug des digitalen Mediums im Gange. Aber allgemein gilt die Formel: Die jeweilige Seins- oder Lebensform drängt in ihren kritischen Phasen auf Ausdrucksweisen, die erst in einem neuen Medium ihre volle Erfüllung erfahren. Es gibt eine mediale Abhängigkeit der Lebensform. Das heißt, erst das digitale Medium vollendet den Prozess, innerhalb dessen sich das Subjekt dem Projekt nähert. Das Digitale ist ein Projektmedium.
Angesichts des Digital Turn fordert Flusser eine neue Anthropologie, eine Anthropologie des Digitalen: »Wir sind nicht mehr Subjekte einer gegebenen objektiven Welt, sondern Projekte von alternativen Welten. Aus der unterwürfigen subjektiven Stellung haben wir uns ins Projizieren aufgerichtet. Wir werden erwachsen. Wir wissen, dass wir träumen.« 37 Der Mensch ist, so Flusser, ein »Künstler«, der alternative Welten entwirft. Der Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft verschwindet. Sie sind beide Projekt. Wissenschaftler sind, so Flusser, »Computerkünstler avant la lettre«. 38
Befremdlicherweise gründet Flusser die »neue Anthropologie« auf das »Judenchristentum«, das »im Menschen nur Staub sieht«. 39 Im digitalen Punktuniversum lösen sich alle festen Größen auf. Es gibt weder Subjekt noch Objekt: »Wir können keine Subjekte mehr sein, weil es keine Objekte mehr gibt, deren Subjekte wir sein könnten, und keinen harten Kern, der Subjekt irgendeines Objektes sein könnte.« 40 Das Selbst ist heute, so Flusser, nur noch ein »Knotenpunkt einander kreuzender Virtualitäten«. Auch das Wir ist ein »Knoten von Möglichkeiten«: »Wir müssen uns als Krümmungen oder Ausbuchtungen im Feld einander kreuzender, vor allem zwischenmenschlicher Relationen verstehen. Auch wir sind »digitale Komputationen« aus schwirrenden Punktmöglichkeiten.« 41 Flussers digitaler Messianismus wird der heutigen Topologie der digitalen Vernetzung nicht gerecht. Sie besteht nicht aus selbstlosen Punkten und Kreuzungen, sondern aus narzisstischen Inseln von Egos.
Die Anfänge der digitalen Kommunikation waren insgesamt von Utopismen beherrscht. So schwebt auch Flusser eine idealisierte Anthropologie des
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