Lord Stonevilles Geheimnis
Geneigte Leserin, geneigter Leser,
mein Name ist Hester Plumtree, aber die meisten nennen mich Hetty. Ich leite die familieneigene Brauerei, seit mein Ehemann verstorben ist, und es gibt Leute, die mir deshalb argen Kummer bereiten, aber ich sage immer: Wenn man Zeit hat, das Leben anderer zu kritisieren, hat man einfach nicht genug zu tun.
Ich selbst bin natürlich davon ausgenommen, wenn es um meine Enkelkinder geht. Ich habe das Recht, ihnen zu sagen, was sie zu tun haben, nicht wahr? Schließlich habe ich sie im Wesentlichen großgezogen, nachdem ihre Eltern, der Marquess und meine Tochter, durch ein tragisches Unglück ums Leben kamen. Mehr sage ich nicht dazu, denn die Leute klatschen ohnehin schon genug darüber.
Um die Wahrheit zu sagen, wünsche ich mir sehnlichst ein paar Urenkel. Das ist wohl nicht zu viel verlangt. Doch meine starrköpfigen Enkel bereiten mir nichts als Sorgen. Nehmen wir zum Beispiel Oliver. Ich habe ja Verständnis dafür, dass sich ein junger Dandy mit der einen oder anderen Tänzerin in der Stadt vergnügt, um sich die Hörner abzustoßen, aber Oliver hat eine Wissenschaft daraus gemacht! Ständig betrinkt er sich und hurt herum, und so gut wie jedes Schmierblatt hat schon über ihn geschrieben – häufig in Verbindung mit einem unerhörten Vorfall, bei dem ein halb nacktes Weib und ein Fass geschmuggelter Brandy eine Rolle spielten. Ich mache seinen Vater dafür verantwortlich, dessen zügelloses Verhalten Oliver nach dem Tod seiner Eltern übernommen hat.
Von den vier anderen fange ich am besten gar nicht erst an: Jarret mit seinem Hang zum Glücksspiel, Minerva mit ihren obszönen Schauerromanen, Gabriel mit seinen Rennen und Celia, die mit jeder Pistole schießt, die sie in die Finger bekommt. Die feine Gesellschaft nennt meine fünf nicht ohne Grund die Höllenbrut von Halstead Hall. Aber verstehen Sie mich nicht falsch – es sind gute Enkelkinder. Sie erkundigen sich nach meinem Wohlbefinden, begleiten mich zu gesellschaftlichen Anlässen und achten darauf, dass ich nicht zu viel arbeite. Aber sie weigern sich standhaft, ihre skandalösen Gewohnheiten abzulegen, und jetzt reicht es mir!
Ich habe einen Weg ersonnen, wie ich sie dazu zwingen kann, sich häuslich niederzulassen und sich wie die Erben zu benehmen, die ich verdient habe. Es wird ihnen nicht gefallen, aber harte Zeiten erfordern nun einmal harte Maßnahmen. So wahr Gott mein Zeuge ist, ich werde Urenkel bekommen – und zwar schon bald!
Ihre sehr ergebene
Hetty Plumtree
Vorwort
Ealing, England
1806
Oliver Sharpe, dem sechzehnjährigen Erben des Marquess von Stoneville, schlug das Herz bis zum Hals, als er die Stallungen von Halstead Hall verließ. Seine Mutter war so zornig davongeritten, wie er sie selten erlebt hatte. Meistens zeigte sie sich nur traurig und bekümmert – es sei denn, etwas wirklich Ungeheuerliches brachte sie aus der Fassung.
Eine überaus schändliche Tat ihres Sohnes beispielsweise.
Er verging vor Scham.
»Du bist eine Schande für diese Familie!«, hatte sie angewidert geschrien. »Du benimmst dich genau wie dein Vater. Und ich werde verdammt noch mal nicht zulassen, dass er aus dir einen so schlechten, selbstsüchtigen Menschen macht, wie er selbst einer ist und dem nur das eigene Vergnügen etwas bedeutet!«
Oliver hatte seine Mutter noch nie fluchen gehört, und dass er sie dazu getrieben hatte, erschütterte ihn. Hatte sie vielleicht recht? War er tatsächlich im Begriff, genau wie sein rücksichtsloser, verkommener Vater zu werden? Schon der Gedanke brachte seinen Magen in Aufruhr.
Am schlimmsten war allerdings, dass sie nun losgeritten war, um den Vater für die Sünden seines Sohnes verantwortlich zu machen, und er konnte nichts dagegen tun, weil sie ihm befohlen hatte, ihr aus den Augen zu bleiben.
Aber irgendjemand musste ihr nachreiten. Oliver hatte sie bisher nur einmal so wütend gesehen: als er sieben Jahre alt gewesen war und sie herausgefunden hatte, dass sein Vater ihr untreu war. Damals hatte sie die Sammlung erotischer Bücher seines Vaters auf dem Hof verbrannt.
Gott allein wusste, welchen Schaden sie nun anrichten würde, da sie glaubte, dass ihr Sohn in die Fußstapfen seines Vaters trat. Zumal das Haus wegen der Wochenendgesellschaft voller Gäste war.
Als Oliver zur Vorderseite des Gutshauses ging, das der Familie als Landsitz diente, sah er eine ihm
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