Im Schwarm - Ansichten des Digitalen
ist. Die Hyperrealität repräsentiert nichts, sie präsentiert.
Die Krise der fotografischen Repräsentation hat ihre Entsprechung im Politischen. In Psychologie der Massen bemerkt Gustave Le Bon, dass die Repräsentanten im Parlament die Handlanger der Arbeitermasse seien. Diese politische Repräsentation ist stark. Sie ist unmittelbar an ihren Referenten gebunden. Sie vertritt tatsächlich die Interessen der repräsentierten Arbeitermasse. Heute ist das Repräsentationsverhältnis wie bei der Fotografie massiv gestört. Das ökonomischpolitische System ist selbstreferenziell geworden. Es repräsentiert nicht mehr die Bürger oder die Öffentlichkeit. Die politischen Repräsentanten werden nicht mehr als Handlanger des >Volkes<, sondern als Handlanger des Systems wahrgenommen, das selbstreferenziell geworden ist. In dieser Selbstreferenzialität des Systems liegt das Problem. Die Krise der Politik ließe sich allein durch ihre Rückkopplung an den realen Referenten, an die Menschen überwinden.
Die Massen, die sich früher in Parteien und Vereinen zu organisieren vermochten und von einer Ideologie beseelt waren, zerfallen nun zu Schwärmen von lauter Einsen, das heißt, zu den für sich isolierten digitalen Hikikomoris, die keine Öffentlichkeit bilden und die sich an keinem öffentlichen Diskurs beteiligen. Dem selbstreferenziellen System stehen die für sich isolierten Individuen gegenüber, die nicht politisch agieren. Das politische Wir, das zur Handlung im emphatischen Sinne fähig wäre, zerfällt. Was für eine Politik, was für eine Demokratie wäre heute denkbar angesichts schwindender Öffentlichkeit, angesichts zunehmender Egoisierung und Narzissifizierung des Menschen? Wäre eine Smart-Policy notwendig, die Wahlen, Wahlkämpfe, Parlament, Ideologien und Mitgliederversammlungen ganz überflüssig machen würde, eine digitale Demokratie, in der der Gefällt-mir-Button den Wahlzettel komplett ersetzt? Wozu sind heute Parteien notwendig, wenn jeder selbst eine Partei ist, wenn die Ideologien, die ehemals einen politischen Horizont bildeten, zu zahllosen Einzelmeinungen und Einzeloptionen zerfallen? Inwiefern ist die Demokratie auch ohne Diskurs denkbar?
VOM BÜRGER ZUM KONSUMENTEN
In den 1970er Jahren gab es in den USA eine Fernsehanlage mit interaktiver Funktion QUBE (question your tube). Question weist auf die Möglichkeit der Interaktion hin. Die Anlage verfügt über eine Tastatur, die eine Auswahl etwa unter mehreren abgebildeten Kleidungsstücken erlaubt. Dieser Apparat macht auch ein einfaches Wahlverfahren möglich. Auf dem Bildschirm werden zum Beispiel Kandidaten für den Direktorposten einer Volksschule gezeigt. Mit einer Taste kann man sich für einen Kandidaten entscheiden.
Flusser unterscheidet die Entscheidungen am QUBE-System grundsätzlich von Existenzentscheidungen. Zwischen einer Existenzentscheidung und ihren unabsehbaren Folgen klafft ein »zeitlicher und existentieller Abgrund«. 64 Es ist nicht möglich, die Folgen meiner Entscheidung sofort in Erfahrung zu bringen. So ist jede existenzielle Entscheidung mit Zweifeln behaftet. Zögern und Zaudern begleitet sie. Flusser nimmt an, dass das QUBE-System uns erlauben würde, existenzielle Entscheidungen in »punktartige, atomare Entscheidungen«, nämlich in actomes zu zerlegen, die »augenblicklich wirksam« sind.
Vom QUBE-System ausgehend malt sich Flusser eine zukünftige Demokratie aus. Das QUBE-System mache eine »direkte Dorfdemokratie« möglich. 65 Flusser schwebt eine »entideologisierte Demokratie« vor, in der allein Wissen und Kompetenz zählen: »Das bedeutet, dass im QUBE-System die Kompetenz eines jeden Beteiligten und das Gewicht einer jeden Kompetenz, von aller Ideologie befreit, klar an den Tag tritt«. 66 In dieser entideologisierten Demokratie werden die Politiker durch die Experten ersetzt, die das System verwalten und optimieren. Sowohl politische Repräsentanten als auch Parteien wären dann überflüssig.
Flusser verbindet das QUBE-System ferner mit einer utopischen Lebensform, in der die Muße und das politische Engagement zusammenfallen: »Für die Abonnenten des QUBE-Systems ist die Muße jetzt schon der Ort wirksamer Entscheidungen, die Betrachtung des Bildschirms ist für sie jetzt schon der Ort ihres politischen, sozialen und kulturellen Engagements, und ihr Privatraum ist für sie jetzt schon die Republik, die öffentliche Sache.« 67 Politik ist Muse. In Flussers schöner Zukunft
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