Im Schwarm - Ansichten des Digitalen
unterscheidet sich das Geheimnisvolle vom Gespenstischen. Wie das Spektakel ist das Spektrale auf das Sehen und Gesehenwerden angewiesen. Daher sind die Gespenster lärmend. Gespenstisch ist der digitale Wind, der durch unser Haus bläst: »Jedenfalls ist für Nomaden der Wind, was für Sesshafte der Grund ist. [...] Es ist etwas Gespenstisches [...] daran [...]. Der Wind, dieses gespenstisch Unfassbare, der die Nomaden vorantreibt und dessen Ruf sie gehorchen, ist eine Erfahrung, die für uns als Kalkül und Komputation darstellbar wurde.« 58 Ihre hohe Komplexität macht digitale Dinge gespenstisch und macht sie unkontrollierbar. Die Komplexität ist dagegen kein Kennzeichen des Geheimnisses.
Die Transparenzgesellschaft hat ihre Rück- oder Kehrseite. Sie ist in gewisser Hinsicht eine Oberflächenerscheinung. Hinter oder unter ihr tun sich spektrale Räume auf, die sich jeder Transparenz entziehen. Dark Pool etwa bezeichnet den anonymen Handel mit Finanzprodukten. Der sogenannte Hochgeschwindigkeitshandel auf Finanzmärkten ist letzten Endes ein Handel mit Gespenstern oder zwischen Gespenstern. Es sind Algorithmen und Maschinen, die miteinander kommunizieren und Kriege führen. Diese gespentischen Formen von Handeln und Kommunikation gehen, so würde Kafka sagen, »über Menschenkraft«. Sie führen zu unvorhersehbaren, spektralen Ereignissen wie Flash Crash. Die heutigen Finanzmärkte brüten auch Monstren aus, die aufgrund hoher Komplexität unkontrolliert ihr Unwesen treiben können. Tor heißt das gleichsam unterirdische Netzwerk, in dem man gänzlich anonym unterwegs sein kann. Es ist die digitale Tiefsee im Netz, die sich jeder Sichtbarkeit entzieht. Mit zunehmender Transparenz wächst auch das Dunkel.
INFORMATIONSMÜDIGKEIT
Es war 1936, als Walter Benjamin die Rezeptionsform des Films als »Schock« bezeichnete. Der Schock tritt an die Stelle der Kontemplation als Rezeptionshaltung gegenüber einem Gemälde. Der Schock ist aber nicht mehr angemessen für die Charakterisierung der Wahrnehmung heute. Er ist eine Art Immunreaktion. Darin ähnelt er dem Ekel. Die Bilder lösen heute keinen Schock mehr aus. Selbst Ekelbilder sollen uns unterhalten (Dschungelcamp etwa). Sie werden konsumierbar gemacht. Die Totalisierung des Konsums beseitigt jede Form immunologischer Kontraktion.
Eine heftige Immunabwehr drosselt die Kommunikation. Je niedriger die Immunschwelle ist, desto schneller wird der Informationskreislauf. Eine hohe Immunschwelle verlangsamt den Austausch von Informationen. Nicht immunologische Abwehr, sondern Gefällt-mir fördert die Kommunikation. Der schnelle Kreislauf von Informationen beschleunigt auch den Kreislauf von Kapital. So sorgt die Immunsuppression dafür, dass Massen von Informationen in uns eindringen, ohne auf Immunabwehr zu stoßen. Die niedrige Immunschwelle verstärkt den Konsum von Informationen. Die ungefilterte Informationsmasse lässt aber die Wahrnehmung ganz abstumpfen. Sie ist verantwortlich für manche psychische Störungen.
IFS (Information Fatigue Syndrom), die Informationsmüdigkeit, ist die psychische Erkrankung, die durch ein Übermaß an Information verursacht wird. Die Betroffenen klagen über zunehmende Lähmung analytischer Fähigkeit, Aufmerksamkeitsstörung, allgemeine Unruhe oder Unfähigkeit, Verantwortung zu tragen. 1996 prägte der britische Psychologe David Lewis diesen Begriff. IFS betraf zunächst jene Menschen, die im Beruf über längere Zeit eine große Menge an Informationen bearbeiten mussten. Heute ist von IFS jeder betroffen. Grund ist, dass wir alle mit rasant wachsenden Mengen an Informationen konfrontiert sind.
Ein Hauptsymptom von IFS ist die Lähmung der analytischen Fähigkeit. Gerade das analytische Vermögen macht das Denken aus. Das Übermaß an Information lässt das Denken verkümmern. Das analytische Vermögen besteht darin, vom Wahrnehmungsmaterial alles wegzulassen, was nicht wesentlich zur Sache gehört. Es ist letzten Endes die Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Die Informationsflut, der wir heute ausgeliefert sind, beeinträchtigt offenbar die Fähigkeit, die Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren. Zum Denken gehört aber notwendig die Negativität der Unterscheidung und Selektion. So ist das Denken immer exklusiv.
Mehr Information führt nicht notwendig zu besseren Entscheidungen. Durch die wachsende Informationsmenge verkümmert heute gerade das höhere Urteilsvermögen. Oft
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