Im Sog der Gefahr
Bewusstsein für die sehr reale Gefahr eines nächtlichen Wracktauchgangs ohne ordnungsgemäße Verstärkung an der Oberfläche dämpfte.
Aber Thom war nicht davon abzubringen gewesen, und er war der Chef. Schlimmer noch: Er war fähig, es allein zu tun, wenn sich Finn weigerte, ihm zu helfen. Was auch immer er tat, er konnte nur verlieren.
Er knipste seine Taschenlampe an, leuchtete damit an der Ankerleine hinunter und überprüfte die Anzeige seines Finimeters. Dann drehte er sich um und sah, dass sein Partner das Gleiche tat. Beide machten das Okay-Zeichen.
Senkrecht tauchten sie in die Tiefe, Luftblasen strömten aus ihren Mündern. Zehn Meter. Zwanzig. Druckausgleich bei zunehmender Tiefe. Dreißig Meter, und sie waren fast da. Der Wasserdruck presste das Neopren eng an seine Haut. Auf dem Grund angekommen, machte er den Anker fest und vergewisserte sich, dass er sicheren Halt hatte. Er befestigte eine blinkende Rundumleuchte und eine Sicherungsleine, damit sie den Rückweg leichter finden würden. Er hatte zwar niemandem von ihrem Vorhaben erzählt, aber deshalb würde er noch lange kein Schindluder mit ihrer Sicherheit treiben.
Der Schiffsrumpf lag als dunkler, bedrohlicher Schatten vor ihnen. Er war von Rissen durchzogen und dennoch undurchdringlich. Eventuell tückisch. Nicht gewillt, seine Geheimnisse preiszugeben. Finns Nachforschungen zufolge handelte es sich bei dem Schiff womöglich um ein Relikt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Viel mehr hatte er nicht herausfinden können. Warum hatte noch nie jemand davon gehört? Warum war niemand von der Besatzung entkommen?
Finn mochte keine Geheimnisse. Er mochte es geradeheraus. Direkt. Ohne Umschweife. Aber das hier war nicht das erste Wrack, das in diesem Teil der Welt ohne jeden Hinweis auf Überlebende oder eine Besatzung gefunden wurde.
Die meisten Wracks im Westen der Insel waren von den Wellen zertrümmert, in winzige Stücke zerschlagen oder flach in den Sand gepresst worden. Aber in dieser kleinen, geschützten Bucht waren die Wellen schwächer, und in dieser Tiefe, in diesem entlegenen, geschützten Teil des Pacific-Rim-Nationalparks war der Rumpf intakt und das Wrack all die Jahre unentdeckt geblieben. Bis er und Thom einer ungewöhnlichen Seeotter-Sichtung in der Bucht nachgegangen waren und nur zum Spaß und kurz entschlossen ein paar Tauchgänge eingelegt hatten.
Ein glücklicher Zufall? Für Thom garantiert.
Finn blickte durch die Wassersäule nach oben, doch in diesen schaurigen Tiefen sah er nichts als obsidianschwarze Dunkelheit. Er ließ den Strahl seiner Lampe über den metallenen Schiffsrumpf gleiten und fing Seesterne und Anemonen darin ein, die in leuchtenden Farben glänzten wie Edelsteine. Aber nicht ihretwegen wäre Thom beinahe an seinem Atemregler erstickt, als sie letztes Mal hier unten gewesen waren. Vorsichtig schwamm Finn über das Deck zu einem der Eingänge und machte seine Spule dort fest. Im Inneren des Wracks würde die Leine mehr schaden als nützen. Die pechschwarze, enge Öffnung verschluckte ihn, während er dicht hinter sich Thoms Bewegungen spürte.
Ein Schauer des Grauens kroch seine Wirbelsäule hinauf. Er schüttelte das Gefühl ab und drang tiefer in das Schiff vor. Sie mussten sich
extrem
vorsichtig fortbewegen, ansonsten würden die Sedimente ihnen vollständig die Sicht nehmen, und sie wären allein auf ihren Tastsinn angewiesen, um aus dem tödlichen Labyrinth zu entkommen. Eine schöne Art, mitten in der Nacht in einem unbekannten Wrack zu Tode zu kommen – ohne Oberflächencrew, die ihre Abwesenheit bemerken würde.
Der Herzschlag in seinem Ohr klang ungerührt. In jahrelanger militärischer Ausbildung hatte er gelernt, sein Stresslevel zu kontrollieren. Er hatte schon viele riskante Tauchgänge zu militärischen Zielen in feindlichen Gebieten durchgeführt, aber diese Situation kam ihm kaum weniger lebensbedrohlich vor. Und Thom war zwar ein erfahrener Taucher, aber er war zu alt und zu …
gebrechlich
, um diese Sache allein durchzuziehen.
Thom schwamm neben ihn und hielt dann an, um sich seine Taucherlampe unters Kinn zu halten und eine scherzhafte Horror-Grimasse zu ziehen. Auf einmal sah er glücklicher aus, als Finn ihn seit Jahren gesehen hatte, und seine Sorgen lichteten sich. Vielleicht war es das wert. Diese Entdeckung würde Thom berühmt machen statt nur berüchtigt. Und das wurde verdammt noch mal Zeit.
Er signalisierte seinem Tauchpartner, dass dieser bei der Jagd nach dem Schatz die
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