Im Stein
denen unzählige Flaschen stehen. Sie scheint dich nicht zu beachten. Ihre schwarzen Haare sind hochgesteckt, und sie trägt ein traditionelles blaues Gewand. Du hast diese Art von Gewändern schon einmal gesehen. Irgendwann in den letzten Tagen, deine Beine und deine Füße schmerzen, du musst viel gewandert sein. Durch Hakone, wo immer dieser seltsame Ort liegt, nur einige Bilder und Erinnerungen in deinem Kopf, das Meer, flache, geschwungene Hügelketten, und durch diese Stadt, Tokio, wie immer du auch hierhergekommen bist, eine lange Zugfahrt, wie bist du aus dem Haus mit den Wänden aus Papier zum Bahnhof gekommen, du erinnerst dich an einen schneebedeckten Berggipfel, den du aus dem Zugfenster gesehen hast. Wann genau ist das gewesen? Kein Bahnhof in deinen zerschnittenen Erinnerungen. Dein Haar ist feucht. Du streichst über dein glattes, kaltes Gesicht, spürst einen kleinen verkrusteten Schnitt unterhalb des Jochbeins. Du drehst dich um und erkennst kaum den Stock, der hinter dir an der Wand im Schatten lehnt. Ein mattes gelbes Licht liegt über dem Tresen und der Frau und den Regalen. Du greifst nach dem Glas, die Eiswürfel klimpern leise. Als du es zum Mund führst, merkst du, dass es leer ist. »Konichawa«, sagst du in Richtung der Frau und erinnerst dich, dass der Mann in Hakone versucht hat, dir ein paar Brocken Japanisch beizubringen. Der Mann, der dir den Stock überreicht hat, der jetzt hinter dir im Schatten steht. Der Stock mit dem Drachenkopf. Oder war es der Kopf eines Dämons, eine hundeartige Fratze …, du willst dich nicht noch einmal umdrehen. »Konichawa«, sagst du, der Mann, der dich zu den heißen Schwefelquellen geführt hat. Der Mann, zu dem sie dich geschickt haben, ein langer Flug, ein langer Flur, entlang den Grenzen zum All.
Jetzt erst hörst du die leise Musik. Irgendeine japanische Schnulze, eine Frau singt klagend zum Klavier. »Und meine Tränen, Perlen, an einem Wintertag …« Du blickst auf. Summt das die Frau, genau zur Melodie der leisen Musik, oder ist das irgendwo in deinem Kopf, irgendein deutscher Schlager, den du irgendwann einmal gehört hast? Du hast Angst, dass die Stimmen zurückkommen. Die Frau dreht sich zu dir. Die Aufschläge ihres blauen Gewandes hat sie auseinandergeschoben, so dass du ihre Brüste sehen kannst. Eine Brust, ihre linke?, ist braun, fast schon schwarz, und erschrocken erkennst du das große Muttermal, das fast ihre gesamte Brust bedeckt, sich bis zum Schlüsselbein zieht. Die Frau summt wieder etwas vor sich hin, beugt sich vor, greift unter den Tresen und hält dann eine kleine Nagelschere in der Hand.
Du willst etwas sagen, aber sie bückt sich noch einmal, breitet eine Zeitung vor sich auf den Tresen, legt eine Hand unter die Brust mit dem dunkelbraunen Muttermal, schiebt ihren Oberkörper so weit vor, dass ihre Brust sich direkt über der Zeitung befindet, und befühlt sie mit der Hand und schneidet ein paar Haare ab, die an einigen Stellen aus dem Muttermal wachsen, du siehst, wie sie langsam und kaum sichtbar aufs Papier der Zeitung fallen, zwischen den schwarzen Zeichen verschwinden.
»Was machst du«, willst du sagen und kannst fast ihre Schulter berühren, ihre Brust berühren, ohne den Arm weit auszustrecken, so klein und schmal ist der Raum der Bar, so nah bist du ihr.
Du hörst das leise Klappern der Schere zwischen der immer gleich klingenden Schlagermusik. Du knöpfst deinen Mantel zu und stehst auf. Du willst einen Schein auf die Theke legen, spürst dein Portemonnaie in der Innentasche, lässt es aber dann. Die Frau beachtet dich immer noch nicht, scheint sich nicht zu stören an deiner Anwesenheit. Du bist gar nicht hier . Du willst gehen, drehst dich zur Wand, siehst aber keine Tür zwischen den glänzenden grünen Fliesen. Ein Geräusch auf der anderen Seite des Tunnels. Wieder drehst du dich um. Die Frau streicht mit beiden Händen über die Zeitung, ein winziges Häufchen schwarzer Haare. Du kannst nicht anders und musst auf das Muttermal blicken. Du erkennst die dunkelbraune Brustwarze inmitten dieses Flecks. Ein Mann steht am anderen Ende der Bar. Du gehst auf ihn zu, er geht an dir vorbei. Deine Schulter berührt seine Schulter. Das Rascheln von Papier. Du hörst, wie er etwas zu ihr sagt. Du greifst die Klinke der kleinen dunklen Holztür, durch die er gekommen sein muss. Wo bist du. Du willst nach Hause. Als du dich umdrehst, die Klinke in der Hand, die Tür schon halbgeöffnet, siehst du, wie der Mann im
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