Im Stein
hellen Anzug, der dich an den Mann in Hakone erinnert, der dich an irgendeinen Mann erinnert, ihre Brust mit dem Muttermal mit beiden Händen gepackt hat und sich lachend über den Tresen zu ihr beugt.
Als du später in dem Auto sitzt und durch die getönten Scheiben auf die Straßen aus Glas und Licht schaust, ist deine Hand warm und feucht, weil der Knauf deines Stockes warm und feucht ist. »Willkommen in Kabukichō«, sagt die alte Frau, die dir gegenübersitzt und ein Glas in der Hand hält, in dem die Eiswürfel leise klirren. Sie spricht Deutsch mit einem dunklen Akzent, in einem hölzernen Barkasten neben ihr und vor dir stehen Flaschen und Gläser. »Willkommen in Tokio. Bedienen Sie sich, Kraushaar-San.« Sie weist mit beiden Händen auf den Barkasten, zeigt ihm ihre Handflächen dabei. Kleine Hände. Sie trägt einen aufgeknöpften grauen Mantel über einem dunklen Kostüm. Ihr Haar ist fast weiß. Sie berührt dein Knie. Nein, nur der Wagen bremst ab, und sie beugt sich kurz zu dir, lehnt sich dann wieder in die Ledersitzbank. Du spürst ein Summen in deinem Knie, im Oberschenkel, wo die Wunde ist. »Verzeihen Sie die Umstände, Sie sind sicher müde.«
»Nein«, sagst du, »ich bin nur …, bin nur … eben noch woanders gewesen.«
»Ja«, sagt die alte Frau und lächelt, »hai. Sie sind weit gereist.«
Die Tür hinter dir ist geschlossen. Du bist nicht auf der Straße. Eine halbdunkle Halle.
Menschen, die dir bis zur Brust reichen, tanzen im Halbdunkel. Tanzen direkt vor dir. Bewegen sich dann langsamer. Du blickst in ihre starren Gesichter, auf ihre kantigen Kiefer. Erkennst dann, dass es Puppen sind. Siehst die langen dünnen Fäden. Und Männer in schwarzen Gewändern, ohne Gesichter, die kaum erkennbar hinter den Puppen stehen. Du rutschst an der Tür nach unten. Gesang und Worte dringen zu dir. Du erkennst Gestalten auf einem langgezogenen Podest, vor dem sich ein Gitter aus hellen Bambusstäben befindet, einige sitzen, einige stehen, von dort kommt der Gesang, kommen die Worte, die du nicht verstehst, du siehst, wie sie die Arme bewegen hinter dem Gitter, oder sind das die Arme der großen Puppen?, wie sich die Schatten bewegen, auf dem Boden, zwischen den Puppen, deren hervorstehende Augen dich anblicken, und die schwarzen gesichtslosen Männer mit den Fäden bewegen sich mit ihren Puppen von dir weg.
»Ich hätte Sie gern in ein besseres Theater geführt.«
»Was für ein Theater?«
»Eine alte, sehr alte Tradition, Kraushaar-San. Sie waren am Rand von Shinjuku, am Rand von Kabukichō, Kraushaar-San.«
»Ich weiß nicht, wo ich war.«
Und du tastest dich an der Wand entlang, sitzt auf dem Boden, aber das stört dich nicht, weil du gesehen hast, dass sie hier viel und oft auf dem Boden sitzen, in diesem fernen Land, in das sie dich geschickt haben, damit du dich erholst. Du kannst dich nicht daran erinnern, aber der Mann in Hakone hat es gesagt.
Und du schaust aus dem Schatten, »Kage«, sagt einer der Männer, ohne aufzublicken, während du dich zu den Stäbchen, die in deinem Reis stecken, beugst. Schaust aus dem Schatten auf die Puppen und erkennst immer noch kaum die schwarzgekleideten Marionettenführer, deren Gesichter unter den schwarzen Umhängen verborgen sind, die du vielleicht Kimonos nennen würdest, aber du weißt, dass das sicher nicht die richtige Bezeichnung ist. Der Gesang und die Stimmen, die von dem Podest an der Wand gegenüber kommen, werden immer lauter, klingen immer dramatischer, und du versuchst zu begreifen, wie die Stimmen und die Bewegungen der Puppen zueinanderpassen, zueinandergehören. Und du begreifst, dass du sie nicht sehen musst, nicht sehen sollst, die Männer mit den Fäden.
Eine Frauenpuppe in einem blauen Kimono klagt laut und singt laut, beugt sich, verbeugt sich. Legt die Hände an ihre Brust, legt die Hände an ihre Haare. Irgendein Unglück muss passiert sein, denkst du. Und dann denkst du, dass du deine Frau noch nicht angerufen hast, seit du hier bist, in diesem Land bist, aber dann spürst du, dass es dir egal ist. Dann denkst du an deinen Sohn, aber auch das ist fern und berührt dich nicht. Und war in all den Tagen, die du durch diese Stadt gewandert bist, nicht bei dir. Und je länger du ins Halbdunkel der Halle starrst, erkennst du auch andere Zuschauer, die auf Matten hocken, je länger du auf das Spiel der Puppen starrst, umso mehr verstehst du die Geschichte. Ein Vater und ein Sohn. Die Geliebte des Sohnes. Der Vater will, dass er
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