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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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dunkle Haare gehabt, deshalb färbe ich sie mir manchmal. Ob man unten färben kann? Dann würde ich mir vielleicht einen kleinen Streifen stehen lassen. Obwohl das nicht gesund sein soll mit der Färberei, vielleicht hat das auch mit den Schuppen zu tun, die ich jetzt wieder habe, wenn ich nicht jeden Tag das Brennnesselzeug benutze. Ich schalte den Fernseher ein, immer noch ohne Ton. Den habe ich vorhin runtergedreht, als der zweite Gast kam. Das Radio läuft leise im Hintergrund. Wenn jemand so Junges kommt, der auch noch ganz gut aussieht, frage ich mich manchmal, eigentlich war’s auch nur ganz zu Anfang so, ob der eine Freundin hat und nur Abwechslung braucht oder sie nicht gut genug bläst oder überhaupt nicht oder was weiß ich oder ob er echt nicht zum Ficken kommt, weil schüchterne Typen gibt es ja jede Menge. Aber eigentlich ist’s mir scheißegal. Bei mir ist das so fünfzig/fünfzig, also zwischen Arschlöchern und Großschnauzen und den Schüchternen. Aber genau kann ich’s nicht sagen, weil die Schüchternen manchmal genauso scheiße sind, obwohl mir die Stillen eher lieber sind, Mutti macht das schon. Da kann ich selbst dirigieren, und die hämmern mir nicht alles wund. Aber fünfzig/fünfzig trifft’s eh nicht richtig, weil’s noch jede Menge andere Typen gibt, da kommt das mit den Prozenten wieder durcheinander, ich habe manchmal drüber nachgedacht, eine Liste zu schreiben, eine Art Typentabelle.
    Achtzehn Uhr, die Nachrichten . Der Erste war scheiße. Der Zweite ganz o.k. Muss man so sehen, sonst wird man blöd. Also ich zumindest. Die Superhits der Achtziger. Höre ich gerne. Bin neunzehnhundertneunundsiebzig geboren, und meine Musik ist eher aus den Neunzigern, Techno, Scooter, Hyper-Hyper, wegen den Rolling Stones bin ich fünfundneunzig mit meiner Mutter nach Berlin gefahren, Voodoo-Lounge-Tour, durfte keiner wissen von meiner Technoclique, aber meine erste Schuldisko war neunzehnhundertachtundachtzig, kurz vor der Wende. Da liefen diese ganzen Kracher. Live is life. Küss die Hand, schöne Frau, Ihre Augen sind so blau. Da Da Da.
    Das Telefon klingelt. Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht. Jaaaa? Hm. Jaaa. Natürlich. Sofort. Rotkäppchenweg 12. Bei Bose. Ja, wie diese Elektrofirma. Hmmm. Ja. Ich freu mich auf dich. Bis gleich. Da Da Da.
    Es ist siebzehn Uhr fünfundfünfzig. Die Stadt und die Welt. Immer fünf Minuten früher informiert. Da bin ich wohl kurz weggenickt. Ich bin ständig müde in letzter Zeit. Muss am Wetter liegen. Liegt immer am Wetter. Wie so vieles. Kaum mache ich die Augen zu, fange ich an zu träumen. Von wegen Rotkäppchenweg. Den gibt’s hier schon in der Stadt, das ist drüben im Süden, da gibt’s ein ganzes Märchenviertel, wo die Straßen und Wege nach den Märchen heißen. Den Grimms. Meine Mutter hat mir manchmal welche vorgelesen. Nicht oft. Aber an ein paar kann ich mich erinnern. Ich meine jetzt nicht die üblichen, die man so kennt. Und nach denen auch die Straßen in diesem Viertel im Süden heißen. Dornröschenstraße. Froschkönigweg. Schneewittchenweg. Aschenputtelstraße. Frau-Holle-Platz. Schneeweißchen und Schneerosenrot. Ich weiß das wegen Sabine, die hat da gewohnt, ist dort aufgewachsen, hat sie mir erzählt. Und auch zur Schule gegangen, zu Zonenzeiten, sie ist zwei oder drei Jahre älter als ich. Die Schule hieß aber nicht »Rumpelstilzchen POS« oder so. An die Märchen kann ich mich noch genau erinnern, wie an das Lied »Der Mond ist aufgegangen«, und tatsächlich steht er drüben hoch über den Häusern, ganz klein in der kalten, klaren Nacht, und ich gehe zum Couchtisch und setze mich auf einen der beiden Sessel, denn aufs Bett habe ich grad keine Lust. Die Jalousie bewegt sich noch und macht Geräusche am Fensterglas. »Der Eisenhans« hieß eins von den Märchen. Und »Frau Trude«. Und an den »Fischer und syne Fru« kann ich mich auch noch erinnern. »Manntje, Manntje, Timpe Te / Buttje, Buttje in der See / myne Fru, de Ilsebill / will nich so, als ik wol will.« Oder so ähnlich. Oma und Opa kamen von der Küste. Bad Doberan. Und meine Mutter kann ganz gut Platt. Wir sind oft hochgefahren, als ich klein war. Was heißt Manntje, Omi? Und was ist eine Timpe? Als ich acht geworden bin, haben mir Oma und Opa das Märchenbuch geschenkt. Das war grün, und seltsame Bilder waren drin, die haben mir manchmal Angst gemacht. Ich weiß nicht, wo es jetzt ist. Mutti wohnt noch in derselben Wohnung in Jena, und mein altes

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