Das Lied der Maori
1
»Sie sind Mrs. O’Keefe?«
William Martyn schaute verdutzt auf das rothaarige, zierliche Mädchen, das ihn an der Rezeption des Gästehauses willkommen hieß. Die Männer im Goldgräberlager hatten ihm Helen O’Keefe als ältere Dame geschildert, ja als eine Art weiblichen Drachen von der Sorte, die mit zunehmendem Alter Feuer spie. In Miss Helens Hotel herrschten strenge Sitten, hieß es. Das Rauchen sei verboten, ebenso Alkohol, erst recht das Mitbringen von Gästen anderen Geschlechts, sofern keine Heiratsurkunde vorlag. Die Erzählungen der Goldgräber hatten eher ein Gefängnis als ein Gasthaus erwarten lassen. Immerhin gäbe es keine Flöhe und Wanzen in Miss Helens Etablissement, dafür aber ein Badehaus.
Letzteres hatte William endgültig davon überzeugt, alle Warnungen seiner Bekannten in den Wind zu schlagen. Nach drei Tagen auf dem Gelände der alten Schaffarm, die sich die Goldgräber als Unterschlupf gesichert hatten, war er zu allem bereit gewesen, um dem Ungeziefer dort zu entrinnen. Sogar den »Drachen« Helen O’Keefe wollte er über sich ergehen lassen.
Nun aber begrüßte ihn hier keineswegs ein Drache, sondern dieses ausnehmend hübsche, grünäugige Geschöpf, dessen Gesicht von einer unbezähmbaren rotgoldenen Lockenpracht eingerahmt war. Alles in allem der erfreulichste Anblick, seit William in Dunedin, Neuseeland, das Schiff verlassen hatte. Seine Laune, seit Wochen auf dem Tiefpunkt, hob sich beträchtlich.
Das Mädchen lachte.
»Nein, ich bin Elaine O’Keefe. Helen ist meine Großmutter.«
William lächelte. Er wusste, dass er damit Eindruck machte. In Irland hatte sich stets ein aufmerksamer Ausdruck auf die Gesichter der Mädchen geschlichen, wenn sie den Schalk in seinen blauen Augen aufblitzen sahen.
»Das tut mir ja fast leid. Sonst hätte ich nämlich glatt eine Geschäftsidee gehabt: ›Wasser aus Queenstown – entdecken Sie den Jungbrunnen!‹«
Elaine kicherte. Sie hatte ein schmales Gesicht und eine kleine, vielleicht ein bisschen zu spitze Nase mit unzähligen Sommersprossen.
»Sie sollten sich mit meinem Vater zusammentun. Der macht ständig solche Sprüche: ›Spaten gut, alles gut. Goldgräber, kauft eure Ausrüstung im O’Kay Warehouse!‹«
»Ich werde es beherzigen«, versprach William und merkte sich den Namen tatsächlich. »Wie ist es jetzt? Bekomme ich ein Zimmer?«
Das Mädchen zögerte. »Sie sind Goldgräber? Dann ... na ja, es gibt schon noch freie Zimmer, aber die sind ziemlich teuer. Die meisten Goldgräber können sich die Unterkunft hier nicht leisten ...«
»Sehe ich so aus?«, fragte William mit gespielter Strenge. Dabei runzelte er die Stirn unter seinem blonden, üppigen Haarschopf.
Elaine musterte ihn jetzt ungeniert. Auf den ersten Blick unterschied er sich nicht allzu sehr von den anderen Goldgräbern, die sie in Queenstown täglich zu sehen bekam. Er wirkte ein wenig schmutzig und abgerissen, trug einen Wachsmantel, blaue Denimhosen und feste Stiefel. Auf den zweiten Blick jedoch erkannte Elaine – als Tochter eines Kaufmanns – die Qualität seiner Ausstattung: Unter dem offenen Mantel war eine teure Lederjacke zu sehen; an den Beinen trug er lederne Chaps; die Stiefel waren aus hochwertigem Material, und das Hutband um seinen breitkrempigen Stetson war aus Pferdehaar geflochten. Das kostete ein kleines Vermögen. Auch seine Satteltaschen – er hatte sie zunächst lässig über seine rechte Schulter gehängt, jetzt aber zwischen seinen Beinen auf dem Boden deponiert – schienen eine solide und teure Arbeit zu sein.
Das alles war keineswegs typisch für die Glücksritter, die nach Queenstown kamen, um in den Flüssen und Bergen nach Gold zu suchen, denn nur die wenigsten wurden reich. Die große Mehrheit verließ die Stadt früher oder später so arm und abgerissen, wie sie gekommen war. Das lag auch daran, dass die Männer die Erträge ihrer Minen in der Regel nicht sparten, sondern gleich in Queenstown wieder verprassten. Wirklich zu Geld gekommen waren nur die Zuwanderer, die sich hier angesiedelt und ein Geschäft gegründet hatten. Zu ihnen gehörten Elaines Eltern, Miss Helen mit ihrer Pension, Stuart Peters’ Schmiede und Mietstall, Ethans Post- und Telegrafenamt – und vor allem natürlich der verrufene, aber allgemein beliebte Pub in der Main Street und das darüberliegende Freudenhaus namens Daphne’s Hotel.
William erwiderte Elaines abschätzenden Blick geduldig mit leicht spöttischem Lächeln. Elaine schaute
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