Im Totengarten (German Edition)
taub.
Als endlich der Krankenwagen und zwei Vans der Polizei auf der anderen Straßenseite hielten, geriet alles in Bewegung, wie bei einer Folge der Krankenhausserie Casualty. Das Sagen hatte offenbar ein Mann, der einen langen Mantel trug. Beamte in Uniform schwirrten um ihn herum, nahmen seine Anweisungen entgegen, liefen wieder los und hievten Kisten voller Werkzeug aus den Vans. Als er auf mich zutrat, konnte ich wegen der Dunkelheit keine Einzelheiten seines Gesichts erkennen, abgesehen von dem Kontrast zwischen seinen dunklen Augenbrauen und Augen und der bleichen Haut. Anscheinend hatte er vergessen, wie man lächelte.
»Alice Quentin?«
»Das bin ich«, stieß ich zähneklappernd aus.
Männer stiegen aus dem Van, vor dem er stand, Lampen wurden aufgestellt, und jemand schnitt mit einem Bolzenschneider die Kette des Eisentors auf.
»Wie lange stehen Sie schon hier?«, erkundigte er sich.
»Zwanzig Minuten oder so.«
Flackernd ging eine grelle Lampe an. Der Mann hatte sich so dicht vor mir aufgebaut, als wären die Regeln in Bezug auf den persönlichen Freiraum eines Menschen außer Kraft gesetzt. Seine Statur war gedrungen wie ein Boxer, und die schwarzen Haare hingen ihm in wirren Strähnen ins Gesicht.
»Und was haben Sie so ganz allein in dieser Gegend gemacht?« Er blickte mich stirnrunzelnd an, als wäre vielleicht ich die Täterin.
»Ich bin gelaufen. Das tue ich jeden Tag.«
»Dann sind Sie eindeutig verrückt.«
Er stapfte kopfschüttelnd wieder davon, und ich murmelte ihm hinterher: »Du arroganter Arsch.«
Inzwischen stand das Tor offen, und ein heller Lichtbogen durchschnitt die Dunkelheit. Eine Frau in einem weißen Overall band schwarzgelbes Plastikband an den Leitungsmast, an dem ich lehnte, spulte zusätzliches Band von ihrer Rolle und riegelte meinen Standort ab, als wäre ich ein weiteres Beweisstück, das es einzutüten und zu untersuchen galt. Ich schob mich ein wenig dichter an das Tor. Mehrere Personen liefen eilig hin und her, hoben Gegenstände von der Erde auf und trugen sie eilig fort. Jemand blieb kurz bei mir stehen, kritzelte meine Aussage in einen Block, und über seine Schulter hinweg konnte ich den nackten Körper sehen. Er gehörte einer jungen Frau, deren kleine, nackten Füße unter der Plane hervorlugten.
Ein anderer Techniker in einem weißen Overall beugte sich über sie und leuchtete ihr gnadenlos mit einer grellen Lampe direkt ins Gesicht, als ich plötzlich den Detective in dem teuren Mantel abermals an mir vorbeimarschieren sah.
»Kann ich jetzt nach Hause gehen?«, erkundigte ich mich.
»Und wie genau wollen Sie da hinkommen?«
»Zu Fuß.«
»Das ist ja wohl ein Witz.« Er schüttelte erneut den Kopf. »Na los, kommen Sie mit.«
Ich war zu erschöpft, um ihm zu widersprechen, als er mich in seinen Wagen schob, oder um zu protestieren, als er mir den Gurt anlegte und dabei mit seinem Unterarm über meine Oberschenkel strich. Dann lehnte er sich in seinem Sitz zurück und unterzog mich einer eingehenden Musterung.
»Warum in Gottes Namen laufen Sie abends durch eine Gegend, die für Messerstechereien und Schießereien berüchtigt ist?«
Auch ich starrte ihn an. »Ich bin ziemlich schnell. Wenn mir jemand lästig würde, wäre er bestimmt verblüfft, wie schnell ich rennen kann.« Mit unbewegtem Gesicht ließ er den Wagen an. »Ich wette, dass Sie ein super Pokerspieler sind.«
»Was meinen Sie?«
»Ihr Gesichtsausdruck ändert sich nie. Sie sehen immer wütend aus.«
»Meistens bin ich der ruhigste Mensch der Welt, aber Leute wie Sie, die unnötige Risiken eingehen …«, er runzelte erneut die Stirn, »… gehen mir einfach auf den Keks.«
»Das ist mir inzwischen klar. Ich wette, Sie würden gerne die Gesetze ändern, stimmt’s? Damit wir Frauen immer brav zu Hause bleiben und sticken oder so.«
Er ballte die Fäuste um das Lenkrad seines Wagens und biss seine Zähne derart fest aufeinander, dass das Knirschen sicher noch draußen auf der Straße hörbar war. Der perfekte Kandidat für die Antiaggressionsgruppe, die jeden Freitagnachmittag in meinem Büro zusammenkam. Doch als er vor meiner Haustür hielt, hatte sich sein Zorn zumindest weit genug gelegt, dass er nicht mehr zu kochen, sondern nur noch vor sich hin zu köcheln schien.
»Ist jemand in Ihrer Wohnung, der sich um Sie kümmern kann?«
»Wirklich, es geht mir gut.«
Er stieß ein raues Lachen aus. »Das ist ja wohl ein Witz. Sehen Sie sich nur mal Ihre Hände an.«
Sie
Weitere Kostenlose Bücher