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Im Zeichen der gruenen Sonne

Im Zeichen der gruenen Sonne

Titel: Im Zeichen der gruenen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Rothe
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efeubewachsenen Mauern wie in einem Kessel. Kein Vogel war zu hören – alles schien in flimmernder Hitze erstarrt zu sein. Nur die Fliegen kreisten unbeirrt um die Mülltonnen. Ab und zu landeten sie auf Toms Arm und seinem Gesicht, aber er hatte es längst aufgegeben, sie zu verscheuchen.
    »Oma!«, rief er, so laut er konnte, zu einem der Fenster im dritten Stock hoch.
    »Ooommaaaaa!«
    Wie in jedem Jahr war Tom über die Ferien bei seiner Oma abgeliefert worden, und wie üblich fand er die Zeit bei ihr so spannend und lustig wie eine Magen-Darm-Infektion. Er wusste ja, dass seine Eltern arbeiteten und in den Ferien keine Zeit für ihn hatten, aber mussten sie ihn Jahr für Jahr ausgerechnet bei dieser schlecht gelaunten, alten Frau abliefern? Es gab doch hunderttausende viel schönerer Orte – zum Beispiel das Tal des Todes oder eine Kannibaleninsel. Wie immer hatten seine Eltern ihm versprochen, nächstes Jahr »ganz bestimmt« in Urlaub zu fahren, aber das hatten sie letztes Jahr auch schon getan, genauso wie im Jahr davor … Andere Kinder vielbeschäftigter und überdurchschnittlich gut verdienender Eltern wurden in den Ferien wenigstens in Feriencamps oder schicke Sprachurlaube an die Côte d’Azur geschickt. Aber jedes Mal, wenn er einen entsprechenden Vorschlag machte, versprachen sie ihm vollmundig, ihn nächstes Jahr »ganz bestimmt« auf eine Super-Reise mit allen Schikanen zu schicken – um dieses Versprechen in der nächsten Minute wieder zu vergessen. Seine Eltern waren hohe Tiere in der Computerindustrie und ihre Gedanken kreisten ständig und ausschließlich um ihre Arbeit. Wäre Tom ein programmierbarer Roboter, hätten sie ihm bestimmt mehr Aufmerksamkeit geschenkt, und nicht selten hatte er das Gefühl, dass sie sich immer, wenn sie ihn ansahen, kurz erinnern mussten, wer er war und was er eigentlich in ihrer Wohnung machte. Das Wort »Urlaub« kam in ihrem Wortschatz gar nicht vor. Und jedes Jahr fiel ihnen die »liebe Omi« ein, und Tom wurde trotz lautstarker Proteste eiligst dorthin verfrachtet. Wenn der Fahrer seines Vaters ihn ablieferte und noch auf ein aufgeschwatztes Tässchen Kaffee blieb, spielte Oma noch die »Hab-mich-lieb-und-ich-back-dir-einen-Kuchen-Omi«! Aber wehe, wenn die Tür ins Schloss fiel und Tom alleine mit ihr blieb – dann entwickelte sie den erfrischenden Charme eines südamerikanischen Militärdiktators. Als Erstes wurde ihm jedes Mal sein Handy abgenommen. Sie behauptete zwar, das mache sie nur weil: »… als ich so alt war wie du, hatten wir auch keine Telefone, die wir ständig mit uns rumschleppten. Die Dinger lenken dich nur ab und kosten Geld …«, aber Tom war sich sicher, dass sie es nur einkassiert hatte, damit er nicht um Hilfe rufen konnte.
    Schon ihr Äußeres verriet, dass es niemandem zu raten war, ihr zu widersprechen oder sich gar auf einen Streit mit ihr einzulassen. Die Falten um ihre Mundwinkel stammten garantiert nicht vom Lachen, sie ließen sie energisch wirken und immer schlecht gelaunt … was sie auch war! Ihre stahlblauen Augen blitzten durch dicke Brillengläser wie durch Flaschenböden, und die schneeweißen lockigen Haare hatte sie ganz kurz geschnitten, was so aussah, als trage sie ständig eine Mütze auf dem Kopf, gefertigt aus dem Fell irgendeines bedauernswerten Pudels. Selbst wenn sie sich Mühe gab und leise sprach, klirrten noch immer die Porzellantassen im Schrank.
    Pussy, ihr fetter Kater, rächte sich täglich für seine Kastration – an arglosen Vögeln oder vorwitzigen Mäusen. Die Kadaver schleppte er stolz in die Wohnung und versteckte sie zwischen den Kissen, die peinlich genau mit Knick in der Mitte auf dem Sofa aufgereiht waren. Wenn Oma einen Kadaver fand, ließ sie einen spitzen Schrei los, »Pussyyyyy!«, und dann jagte sie, eine zusammengerollte Zeitung in der rechten, den Kadaver in der linken Hand, quer durch die Wohnung, dem flüchtenden Kater hinterher. Wirklich, die beiden waren ein reizendes Pärchen.
    Früher war Oma Gouvernante gewesen, eine »Erzieherin in besserem Hause«. Ihre pädagogischen Methoden stammten noch aus dieser Zeit. Disziplin, Fleiß und körperliche Ertüchtigung standen für sie an erster Stelle.
    Sie war der einzige Mensch, der Tom »Thomas« nannte und weigerte sich hartnäckig, die Abkürzung zu benutzen.
    All das führte dazu, dass Tom zu den wenigen Jungen gehörte, die sich auf den Schulbeginn freuten.
    Um halb sieben – praktisch mitten in der Nacht –, warf

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