Im Zeichen der gruenen Sonne
entweder Oma Tom aus dem Bett, oder der Kater weckte ihn mit einem kleinen »Geschenk«, etwa einer toten Ratte. Nicht das, was man »einen gelungenen Start in den Tag« nennen konnte. Oma drückte Tom einen kalten Waschlappen ins Gesicht und rubbelte so lange, bis ihr Enkel fürchtete, die Nase werde ihm abfallen.
»Oma, ich bin elf und kann mich alleine waschen!«, protestierte Tom, aber das schien ihr völlig egal zu sein. Nach der Fingernagelkontrolle, dem »Appell«, wie Tom es nannte, folgte der Frühsport. Kniebeugen, Liegestütze, Springen aus der Hocke. Leider machte Oma mit, und es war erstaunlich, wie viel Kraft noch in dem alten Drachen steckte. Wenn Tom nach dem fünfzehnten Liegestütz keuchend mit feuerrotem Gesicht auf dem Parkett lag, wurde sie erst richtig warm.
»Los, los, los, was ist bloß mit den jungen Leuten heutzutage?«, fragte sie, ohne mit ihren Übungen aufzuhören. »Als ich so alt war wie du, da war Krieg, da wurde uns nichts geschenkt! Also, los jetzt, vor dem zwanzigsten Liegestütz gibt’s kein Frühstück! Hab ich dir schon vom Krieg erzählt? Damals war ich …« Und dann folgten nicht enden wollende Geschichten von damals, wo alles viiiiiel schlimmer gewesen war. Tom hatte mal ausgerechnet, dass seine Oma zwar alt war, aber niemals so alt, dass sie noch am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben konnte. Seitdem fragte er sich, von was für einem Krieg sie eigentlich sprach. Sie musste Einzelkämpferin in Vietnam oder Afghanistan gewesen sein, wo man mit einem Messer zwischen den Zähnen durch den Matsch kriecht und Leute mit bloßen Händen umbringt.
Das Frühstück war ekelhaft gesund. Oma bestand darauf, dass »Kinder in den Entwicklungsjahren« (ihr Lieblingsspruch) morgens heiße Milch tranken. Jeden Tag bekam Tom einen großen Becher dampfende Milch vorgesetzt, auf deren Oberfläche sich eine Haut bildete, die Tom besonders grauenhaft fand. Nicht mal Pussy konnte sich dafür begeistern. Aber manchmal hatte Tom Glück, und seine Oma schaute ihm nicht zu. Und so kam es, dass schon nach wenigen Tagen Omas Gummibaum die Blätter hängen ließ und langsam braun wurde. Er war wohl auch kein Fan von heißer Milch.
Nach dem Frühstück drückte Oma ihrem Schützling ein Buch in die Hand und schickte ihn raus auf den Hof. Sie legte viel Wert darauf, dass Tom etwas »Lehrreiches« las. Leider verstand sie darunter Bücher wie Das kleine ABC der Holzverarbeitung oder Die zehn schönsten Knabenchöre der Welt .
Oma schickte ihn immer raus, egal bei welchem Wetter. Weil er nur in den Ferien hier war (was ihm auch völlig reichte), kannte Tom weder die Stadt, noch die anderen Kinder des Hauses besonders gut, und die meiste Zeit war es sterbenslangweilig im Hof. Doch dieses Jahr war es anders, denn Tom hatte sein neues Notebook mitgenommen. Ein Geschenk seiner Eltern, als Trostpflaster. Die Tatsache, dass sie für Tom nie viel Zeit hatten, glichen sie mit schicken Uhren, Spielkonsolen, Fernsehern und Markenklamotten aus – Hauptsache teuer. Tom freute sich über die Aufmerksamkeiten seiner Eltern und doch ahnte er, dass sie damit nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollten.
Das Notebook machte die Nachmittage erträglicher – Tom flog durch ferne Galaxien und rächte sich blutig an ahnungslosen Außerirdischen für Omas Waschlappen, heiße Milch und Bücher. Er kämpfte als Weltraumsoldat gegen Riesenroboter und Monster oder flog in einem Hubschrauber über Washington, wo Terroristen mit Napalm, Raketen, Laserstrahlen, diversen Bomben und Maschinengewehren Toms Frust über die verpatzten Ferien ausbaden mussten. Natürlich durfte Oma nichts Genaues von seinem Notebook wissen – sie hätte keine Sekunde gezögert, es ihm wegzunehmen und ihm stattdessen Aufzucht und Pflege von Kleinnagern in die Hand gedrückt. Diese Frau hatte einfach keine Ahnung von Freizeitbeschäftigung!
Aber jetzt war es heiß. Mörderisch heiß.
»Ooommaaaaa!!!«, rief Tom, so laut er konnte.
Oben im dritten Stock wurde das Fenster aufgestoßen, und Oma lehnte sich hinaus.
»Ja?«
»Kann ich reinkommen? Es ist affenheiß, und wenn ich noch zwei Minuten hier herumsitze, bin ich gar!«
»Jetzt nicht! Ich habe gerade feucht gewischt, und ich will nicht, dass du wieder alles schmutzig machst. Außerdem kannst du ruhig noch ein bisschen draußen bleiben, Kinder in den Entwicklungsjahren brauchen viel frische Luft. Soll ich dir ein neues Buch geben? Ich habe einen sehr interessanten Bildband über
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