Im Zeichen der Roten Sonne
Schlange!
Ich schrie auf, stürzte rücklings zu Boden. Mein Kopf schlug hart an die Steine. Funken sprühten vor meinen Augen. Die Vision erlosch.
Eine Zeit lang blieb ich kraftlos liegen. Mein Kopf schmerzte. Brandwunden bedeckten meine Handflächen. Ein eiserner Ring schien meine Brust einzuschnüren. Das erste Aufschluchzen war so schwer, dass es einem Röcheln glich. Weitere Schluchzer folgten, leichtere, als wäre ein Bann gebrochen. Im Angesicht meiner Mutter hielt ich meine Tränen nicht zurück. Ich wusste, dass Iri mich eines Tages verraten würde.
Nach einer Weile erhob ich mich, trocknete mein Gesicht. Ich verneigte mich vor dem Altar, verabschiedete mich von dem Geist meiner Mutter. Verlieà die Grotte. Blendende Helligkeit schlug mir entgegen. Zwischen den Felsen klaffte wie ein Abgrund der tiefblaue Himmel. Eine hoch aufgerichtete Gestalt zeichnete sich im Gegenlicht ab. Ich suchte verzweifelt nach einem Gesicht; ich sah nur das Glitzern der Augen, das Glänzen der Rüstung, den blendenden Schimmer des gehörnten Helms. Mein Magen verkrampfte sich.
»Ich habe Durst«, stieà ich hervor.
Iri gab ein Zeichen. Ein Diener eilte herbei, brachte einen Wasserkrug und einen Becher. Iri stand breitbeinig da, beide Hände am Griff seines Schwertes, und blickte mich neugierig an.
»Du bist verletzt â¦Â«, stellte er fest.
Ich senkte die Augen auf meine verbrannten Handflächen. Der Schmerz, den ich zu spüren begann, brachte mich endgültig zur Besinnung. Mit einer Stimme, die nur schlecht seine Ungeduld verbarg, fragte Iri:
»Nun, was hat das Orakel verkündet?«
Kühl und ruhig gab ich zur Antwort:
»Ich werde deine Frau sein.«
Mir war, als ob alles an ihm, seine Augen, seine Rüstung, sein Helm triumphierend aufblitzten. Ein stolzes Siegerlächeln erschien auf seinem Gesicht.
»Unsere Schiffe werden zu Neumond in Amôda einlaufen. Die Hochzeit soll gleich nach meiner Rückkehr gefeiert werden.«
Er hatte für mich entschieden, ich musste mich fügen. Ich dachte: Der Mann wird die Frau verraten. Er wird ihr die Macht entreiÃen, um nach seinem Willen zu herrschen, und die Frau wird ihm untertan sein zweimal tausend Jahre lang. Es wird das Zeitalter der Gewalt beginnen, der Eroberung, der Zerstörung. Das Zeitalter der Waffen, nicht das des Lebens. Denn das Leben ist die Sonne und die Sonne ist die Frau. Die GroÃen Vorfahren wussten dies, aber die Menschen werden es vergessen â¦
Doch die Himmelskönigin, die Ewige, wacht. Und wenn die Epoche gekommen ist, da die Sterne im Zeichen der Quellen stehen, wird sie sich in ihrer erhabenen Pracht den Wissenden offenbaren. Dann, aber erst dann, wird das Goldene Zeitalter anbrechen.
Ich fühlte mich sehr schwach. Der Boden gab unter meinen FüÃen nach. Ich spürte, wie Iri mich in seinen Armen auffing. Einen Augenblick hatte ich das Bild eines hochgewachsenen, unbeugsamen Mannes vor Augen, der in seinen Armen eine weià gekleidete Frau trug. Ich lächelte diesem Mann zu, dem ich misstrauen musste, lächelte traumbefangen, wie im Schlaf, bevor ich mich seiner Umarmung überlieÃ.
Nachwort
D ie Handlung dieses Romans stützt sich auf Begebenheiten, die sich in der Frühgeschichte Japans zugetragen haben und im Laufe der Zeit in die Legende eingegangen sind.
Noch bis Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der japanische Kaiser als direkter Nachkomme der Sonnengöttin Amaterasu angesehen. Erst 1946, nach der Kapitulation Japans, hat er offiziell »seine Göttlichkeit verneint«. Dennoch ist der japanische Kaiser - trotz Demokratie und wirtschaftlichem Aufschwung, der das »Land der aufgehenden Sonne« zu einer der gröÃten Industrienationen der Erde gemacht hat - mehr als ein gewöhnlicher Sterblicher. Er ist der Mittler zwischen dem Diesseits und dem Jenseits.
Die Geschichte der japanischen Dynastie kann über eine Zeitspanne von rund 2000 Jahren - also bis zur japanischen Frühgeschichte - zurückverfolgt werden. Wer aber waren die Ahnen des japanischen Kaiserhauses?
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann man in Japan, die mythologischen Schilderungen der »Kojiki« - der heiligen Jahrbücher, die auf Geheià der Kaiserin Gemmyô (662-722) verfasst wurden - nach geschichtlichen Tatsachen zu erforschen. Dabei kristallisierte sich ein deutlicher Zusammenhang heraus zwischen der Sonnengöttin Amaterasu und der
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