Immer wieder, immer mehr (German Edition)
an und lehnte sich im weichen Lederpolster zurück. Merkwürdig, sie fühlte sich richtig aufgeregt und wagemutig. Eigentlich hatte dieses Gefühl schon in dem Moment angefangen, als ihr klar geworden war, dass sie Richard nicht heiraten wollte, und es hatte sich geradezu schwindelerregend verstärkt, als sie Mitch begegnet war. Würde sie an die Vorsehung glauben, dann müsste sie jetzt davon ausgehen, dass eine höhere Macht dafür gesorgt hatte, dass ihr Reifen genau in dem Moment geplatzt war, als ein paar Kilometer hinter ihr Mitch auf der gleichen Landstraße unterwegs gewesen war.
Ach was, sie war einfach übermüdet und gehörte ins Bett. Sie stieg aus und ging zum Haus. Wie viele Sommer hatte sie als Kind hier verbracht? Zehn? Zwölf? Auf jeden Fall war dieses Haus das einzig Beständige in ihrem Leben. Dieses Haus und ihre Großmutter waren ihr einziger Halt gewesen. Ansonsten war ihr Leben – erst durch das ständige Von-Stadt-zu-Stadt-Ziehen ihrer Mutter, später durch ihr eigenes Vagabundentum ziemlich chaotisch gewesen. Als Heranwachsende hatte Liz immer gewusst, sie würde mit allem zurechtkommen, solange sie nur diese kurzen, wundervollen Sommerferien bei Gran hatte. Und jetzt war dieser Ort ihre Zuflucht geworden.
Unwillkürlich verlangsamte sie ihre Schritte. Anders als früher würde jetzt nicht ihre Großmutter dort drinnen auf sie warten, um sie an sich zu drücken. Minerva Braden war vor sieben Jahren gestorben. Liz hatte alles geerbt, sich mit Mitch verlobt, und dann …
„Das ist alles lange her, Lizzie, ganz lange her“, sagte sie laut. „Das war vor Mitch; vor diesem Mistkerl Richard Beschloss; vor deiner überstürzten Flucht…“
Trotz der Dunkelheit wusste Liz genau, wo sie hinfassen musste, um den Schlüssel unter dem Fenstersims zu finden. Sie schloss die Tür auf. Die Erinnerungen überwältigten sie.
Und Erinnerungen an Mitch McCoy. Sehr erotische Erinnerungen.
Ja, sie hatte oft an ihn gedacht in all den Jahren. Die Erinnerungen hatten ihr geholfen, vor allem in Phasen, in denen sie besonders einsam gewesen war. Mit der Zeit waren sie ein wenig verblasst, nun aber, durch eine einzige, kurze mitternächtliche Begegnung erwachten sie zu neuem Leben. Plötzlich war alles wieder so real.
Noch bevor Liz die Tür hinter sich geschlossen hatte, kickte sie ihre roten Pumps fort und zog das unbequeme Kleid aus. In der Speisekammer stand noch die alte Petroleumlampe, und sie war sogar noch gefüllt. Liz seufzte erleichtert auf und ging zum Küchenschrank. Richtig, dort waren auch noch Streichhölzer.
Innerhalb weniger Augenblicke war der Raum in ein warmes Licht getaucht, sodass Liz erkennen konnte, wie übel der Fleck auf der Vorderseite des Kleides wirklich aussah, obwohl sie ihn bei der ersten Gelegenheit auf der Damentoilette einer Tankstelle mit kaltem Wasser behandelt hatte. Kein Wunder, dass Mitch so viele Fragen gestellt hatte.
Wer hätte auch gedacht, dass so viel Blut aus einer Nase spritzen konnte?
Wie würde dieser Fleck erst bei Tageslicht aussehen?
Schade. Das Kleid hatte ihr gefallen. Sogar besser als der Mann, den sie fast geheiratet hätte. Aber diese Erkenntnis war ihr erst unmittelbar vor der Trauung gekommen. Plötzlich war ihr klar geworden, dass sie keinen Mann heiraten wollte, den sie nicht liebte.
Sie legte das bauschige Kleid auf den Küchentisch und machte sich auf die Suche nach etwas, das sie anziehen könnte.
Merkwürdig, wenn sie an Mitch gedacht hatte, dann immer an den schlaksigen fünfundzwanzigjährigen Mitch. Wer wäre auch darauf gekommen, dass er sich zu einem so aufregenden Mann entwickeln würde? dachte Liz, während sie die Treppe ins obere Stockwerk hochging. Seine grünen Augen hatten irgendwie einen anderen Blick, tiefer, intensiver, und in den Augenwinkeln hatte sie winzige Fältchen entdeckt. Sein Haar war länger als damals und reichte ihm fast bis über den Kragen. Das erinnerte sie daran, wie sie in Howards Bohnenfeld Cowboy und Indianer gespielt hatten.
Den größten Spaß hatten sie gehabt, wenn sie sich über die Einzelheiten ihres Friedensvertrags stritten, was am Ende immer zu vergnüglichen Ringkämpfen auf der sonnendurchwärmten Erde geführt hatte.
Liz ertappte sich bei einem Lächeln … schon wieder. Ihr war, als hätte sie seit einer Ewigkeit nicht mehr so von Herzen gelächelt. Sie und Mitch waren damals erst acht und elf gewesen. Aber an ihrer guten Beziehung hatte sich eigentlich nie richtig etwas geändert.
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