Immortal 3 - Schwarze Glut
Verlangen. Ihre Sinne waren überempfi ndlich, ihre Nerven gleichsam wund und entblößt. Sie fühlte die unebenen Pfl astersteine unter ihren Füßen, fröstelte im Nachtwind und störte sich an dem beißenden Gestank, der aus manchen schmutzigen Winkeln aufstieg. Das Lärmen einer Gruppe menschlicher Teenager verärgerte sie massiv. Testosteronüberfrachtete Idioten, die durch die Nacht brüllten und die Vampire und Dämonen förmlich aufforderten, herauszukommen und sie zu holen. Das war Wahnsinn. Sie sollten lieber auf Knien beten, dass keine Todeskreatur sie ins Visier genommen haben mochte. Christine beobachtete, wie sie eine Gasse hinuntergingen, die für ihre Vampirclubs berüchtigt war. Dort würden sie sich an Sex und Blut berauschen, und ein paar von ihnen wären am kommenden Morgen tot oder, schlimmer noch, untot .
Sie blieb stehen, weil ihr auf einmal schwindlig wurde. Das mussten die Nachwirkungen des Pendelzaubers sein. Sie stützte sich mit einer Hand an der abblätternden Mauer neben sich ab und bemühte sich, den Schwindel zu überwinden. Rom war nachts nicht sicher, und dumme Teenager stellten noch die geringste Gefahr dar. Vampire, Zombies, Geister und Dämonen lauerten in sämtlichen Schatten. Christine könnte kämpfen, würde es jedoch gern vermeiden – vor allem jetzt, da sie eine ungefähre Vorstellung davon hatte, wo Kalen war. Sie 30
durfte nicht riskieren, umgebracht zu werden, bevor sie ihn gefunden hatte.
Bleib wachsam, meide heikle Situationen und komm heil nach Hause! Sie konnte sich keinen Patzer erlauben, denn sie hatte einen Job zu erledigen, eine Reise zu machen. Kalen, der Unsterblichenkrieger, war in Schottland. Jedenfalls glaubte sie das. Sie hatte eine felsige Insel gesehen, graues Meer und eine steinerne Burg, außerdem Regen und Wollkleidung im typischen Schottenkaro. Nicht zu vergessen, dass seine Geliebte Gälisch sprach.
Bei dem Gedanken an die rothaarige Sidhe stieß es Christine sauer auf. Wütend verdrängte sie ihre Eifersucht. Derlei unsinnige Regungen lenkten sie nur vom Wesentlichen ab. Sie musste Kalen fi nden und ihm erklären, was vor sich ging. Anschließend würde sie ihn überreden, nach Seattle zu fl iegen, wo Amber und Adrian eine Armee von Menschen und magischen Wesen zusammenstellten, die sich zum Licht bekannten. Der schwierigste Schritt dürfte wohl der erste sein: Kalen zu fi nden. Sobald der Unsterbliche erst von der ernsten Bedrohung erfuhr, würde er zweifellos jedwede … Zerstreuung vergessen und sich in den Kampf stürzen.
Sie stieß sich von der Wand ab. Zwischen ihren Schenkeln pochte es nach wie vor unangenehm, aber sie strengte sich nach Kräften an, es zu ignorieren. Als wäre das möglich! Sie holte tief Luft und sang leise ihre Runen vor sich hin. Jera, Uraz . Hoffnung, Kraft. Das Pochen ließ nach. Nun konnte sie sich wieder ihrem aufkeimenden Plan widmen. Gleich morgen würde sie den ersten Zug nach England nehmen. Die Burg konnte sie aus der Erinnerung nachzeichnen, und sobald sie in Schottland war, wollte sie sich an eine Gruppe von Hexen aus dem Zirkel wenden, die in Inverness 31
wohnten. Zwar besaß keine von ihnen überdurchschnittliche Zauberkräfte, doch wenn sie ihnen ihre Zeichnung der Burg zeigte, würde hoffentlich eine von ihnen sie erkennen und ihr sagen können, wo sie war. Falls nicht, müsste Christine noch einmal den Pendelzauber wirken, doch sie hoffte sehr, dass es nicht so weit kam.
Der Riemen ihres Rucksacks schnürte sich ihr unangenehm in die Schulter. Ihre Pendelschale war nicht gerade leicht. Sie rückte den Rucksack zurecht und blickte sich auf der Straße um. Es war spät, nach zwei Uhr nachts. Alles schien ruhig, aber sie verließ sich nicht darauf, dass es so blieb. Energisch schüttelte sie den Rest ihrer Trance ab und marschierte weiter. Ihr Heimweg brachte sie bei deLinea vorbei. Die edle Kunstgalerie befand sich an einer abgelegenen, ruhigen Piazza. Überrascht stellte Christine fest, dass die Fenster im ersten Stock hell erleuchtet waren. Sie hatte die Vernissage heute Abend vollkommen vergessen. Vor einem Monat noch war Jacques Artois ein armer Bildhauer gewesen, der in einem Pariser Café kellnerte und dessen Kunst unbekannt und ungeschätzt war. Morgen schon würden seine Werke zu den am heißesten gehandelten zählen. Und alles nur, weil der unberechenbare, eigenwillige Besitzer des deLinea – ein Milliardär, der von allen nur » il direttore « genannt wurde – den brotlosen Künstler aus
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