Imperium
Noten nach Hause zu bringen.
Als die sechswöchigen Ferien endeten, packte Lubji
widerstrebend seine kleine lederne Reisetasche, und Herr Lekski fuhr ihn abermals nach Ostrau. »Mein Angebot steht weiterhin«, versicherte ihm der alte Mann, »doch erst mußt du deinen Abschluß haben.«
Während Lubjis zweitem Jahr auf der Oberschule fiel bei den Gesprächen der Name Adolf Hitler fast so oft wie der von Moses. Jeden Tag kamen Juden über die Grenze, die vor den Schrecken des Naziregimes in Deutschland flüchteten, und Lubji fragte sich, was dieser Hitler als nächstes vorhatte. Er las jede Zeitung, die er in die Hand bekommen konnte, egal in welcher Sprache und welchen Erscheinungsdatums.
HITLER BLICKT NACH OSTEN, stand auf der Titelseite
der Ostrava. Als Lubji Seite sieben aufschlagen wollte, um den eigentlichen Artikel zu lesen, stellte er fest, daß die Seite fehlte
– was ihn jedoch nicht davon abhielt, sich zu fragen, wie lange es noch dauern würde, bis des Führers Panzer in die
Tschechoslowakei einrollten. Und eines stand für Lubji fest: Zur Rasse von Hitlers Herrenmenschen gehörten er und
seinesgleichen ganz bestimmt nicht.
An diesem Vormittag äußerte er in der Geschichtsstunde seine Besorgnis, doch der Lehrer konnte offenbar nicht weiter als bis zu Hannibal denken und ob der es über die Alpen schaffte. Lubji klappte sein altes Geschichtsbuch zu und marschierte, ohne die Konsequenzen zu bedenken, aus dem Klassenzimmer und den Flur hinunter zu den Privaträumen des 68
Direktors. Vor einer Tür, durch die er bisher noch nie getreten war, zögerte er kurz; dann klopfte er entschlossen an.
»Herein!« rief eine Stimme.
Lubji öffnete langsam die Tür und betrat das Arbeitszimmer des Schulleiters. Der gottesfürchtige Mann trug seine roten und grauen Amtsroben, und auf seinen langen schwarzen
Ringellocken saß ein schwarzes Käppchen. Er blickte von seinem Schreibtisch auf. »Ich nehme an, dich führt eine Angelegenheit von außerordentlicher Dringlichkeit zu mir, Hoch?«
»Ja, Herr Direktor«, versicherte Lubji. Dann verlor er den Mut.
»Nun?« drängte der Direktor, nachdem sich eine Weile
nichts getan hatte.
»Wir müssen uns darauf vorbereiten, von einem Moment
zum anderen zu fliehen«, platzte es plötzlich aus Lubji heraus.
»Wir müssen davon ausgehen, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis Hitler…«
Der alte Mann lächelte den Fünfzehnjährigen an und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Hitler hat hundertmal erklärt, daß er kein Interesse daran hat, Gebiete zu besetzen, die nicht zum deutschen Reich gehören«, erklärte er, als würde er einen unbedeutenden Fehler verbessern, der Lubji in einer Geschichtsprüfung unterlaufen war.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie belästigt habe, Herr
Direktor.« Lubji erkannte, daß er einen so weltfremden Mann nicht überzeugen konnte, und mochte er seinen Fall noch so überzeugend darlegen.
Doch im Laufe der nächsten Wochen mußte zuerst Lubjis Klassenlehrer und schließlich auch der Direktor zugeben, daß vor ihren Augen Geschichte geschrieben wurde.
An einem warmen Septemberabend forderte der Direktor
die Schüler bei seiner täglichen Runde auf, ihre Sachen zu packen, da sie im Morgengrauen des kommenden Tages das 69
Schulgebäude verlassen würden. Er wunderte sich nicht, als er feststellte, daß Lubjis Zimmer bereits geräumt war.
Wenige Minuten nach Mitternacht überquerte eine deutsche Panzerdivision die Grenze und rückte, ohne auf Gegenwehr zu stoßen, gegen Ostrau vor. Die Soldaten durchstöberten die Oberschule, noch ehe die Frühstücksglocke läutete, und zerrten sämtliche Schüler auf die wartenden Lastwagen. Nur einer meldete sich beim Anwesenheitsappell nicht: Lubji Hoch, der die Schule in der Nacht zuvor verlassen hatte.
Nachdem er seine Habseligkeiten in die kleine Lederreisetasche gestopft hatte, schloß Lubji sich dem Flüchtlingsstrom zur ungarischen Grenze an. Er hoffte inständig, daß seine Mutter nicht nur die Zeitungen gelesen, sondern auch Hitlers Absicht vorhergesehen und mitsamt der Familie die Flucht ergriffen hatte. Erst vor kurzem waren Lubji Gerüchte zu Ohren gekommen, daß die Deutschen sämtliche Juden
zusammentrieben und in Internierungslager sperrten. Er versuchte, gar nicht erst daran zu denken, was seiner Familie im Fall einer Gefangennahme widerfahren mochte.
Nachdem Lubji sich in dieser Nacht aus dem Eingangstor der Oberschule gestohlen hatte, konnte er die Einheimischen
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