Imperium
und in einer Bude lediglich Bilder, von denen einige sogar gerahmt waren.
Obwohl Lubji ihre Sprache fließend beherrschte, lautete die einzige Frage der Händler, als er ihnen seine Dienste anbot: 72
»Hast du was zu verkaufen?« Zum zweitenmal in seinem
Leben sah Lubji sich mit dem Problem konfrontiert, daß er nichts besaß, womit er einen Tauschhandel hätte tätigen können. Deshalb konnte er nur zuschauen, wie andere
Flüchtlinge kostbare Familienerbstücke für nicht mehr als einen Laib Brot oder einen Sack Kartoffeln hergaben. Rasch wurde ihm klar, daß man im Krieg mit einigem Geschick ein Vermögen anhäufen konnte.
Lubji wollte gerade weitergehen, als ein junger Mann, nur wenige Jahre älter als er, zu einem Kiosk schlenderte, sich ein Päckchen Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer geben ließ und davonging, ohne zu bezahlen. Die Besitzerin des Kiosks versuchte, dem jungen Burschen nachzulaufen; sie fuchtelte mit den Armen und schrie: »Dieb! Dieb!« Doch der junge Mann zuckte bloß die Schultern und zündete sich eine Zigarette an. Lubji rannte ihm die Straße entlang nach und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Als der Bursche sich umdrehte, sagte Lubji: »Du hast die Zigaretten nicht bezahlt.«
»Hau ab, verdammter Slowak«, knurrte der Mann und stieß ihn zur Seite, ehe er weiter die Straße entlangschlenderte. Lubji folgte ihm erneut und packte ihn diesmal am Arm. Wieder drehte der Kerl sich um und schlug ohne Vorwarnung nach seinem Verfolger. Lubji duckte sich, und die Faust zischte über seine Schulter hinweg. Als der Mann vom Schwung des
eigenen Schlages nach vorn gerissen wurde, versetzte Lubji ihm einen derart wuchtigen Fausthieb in die Magengrube, daß der Bursche rückwärts taumelte, schwer auf den Boden prallte und die Zigaretten wie auch die Streichhölzer fallen ließ. In diesen Sekunden hatte Lubji wieder etwas entdeckt, das er offenbar von seinem Vater geerbt hatte.
Seine Körperkraft hatte ihn dermaßen erstaunt, daß er einen Augenblick zögerte, ehe er sich bückte und die Zigaretten und Streichhölzer aufhob. Er ließ den Kerl, der sich die Hände auf den schmerzenden Leib preßte, auf der Straße sitzen und rannte 73
zum Kiosk zurück.
»Vielen Dank«, sagte die alte Frau, als Lubji ihr die Ware zurückbrachte.
»Ich bin Lubji Hoch«, stellte er sich vor und verbeugte sich tief.
»Und ich bin Frau Cerani«, sagte sie.
Als die alte Dame an diesem Abend nach Hause ging,
schlief Lubji auf dem Pflaster hinter dem Kiosk. Am folgenden Morgen sah Frau Cerani überrascht, daß der junge Mann immer noch da war – er saß auf einem Stapel neuer Zeitungen.
In dem Moment, als Lubji sah, wie die alte Dame die Straße herunterkam, machte er sich daran, die zusammengeschnürten Zeitungspacken zu öffnen. Dann beobachtete er die Frau, wie sie die Zeitungen sortierte und übersichtlich in Ständern zur Schau stellte, so daß sie den Leuten, die zu dieser frühen Stunde zur Arbeit eilten, ins Auge fielen. Im Laufe des Tages erzählte Frau Cerani ihrem jungen Helfer von den
verschiedenen Zeitungen und beobachtete staunend, in wie vielen Sprachen Lubji lesen konnte, und mehr noch: Bald stellte sie fest, daß er sich mit jedem Flüchtling zu unterhalten vermochte, der an den Kiosk kam, um sich über Neuigkeiten aus seiner Heimat zu informieren.
Am nächsten Morgen hatte Lubji – schon lange, bevor Frau Cerani kam – sämtliche Zeitungen in ihre Ständer einsortiert.
Einige hatte er sogar schon an frühe Kunden verkauft. Gegen Ende der Woche döste Frau Cerani so manche Stunde
glücklich in einem Winkel ihres Kiosks und brauchte nur hin und wieder mit einem Rat auszuhelfen, wenn Lubji die Frage eines Kunden einmal nicht beantworten konnte.
Nachdem Frau Cerani am Freitagabend den Kiosk
geschlossen hatte, bedeutete sie Lubji, mit ihr zu kommen. Die beiden schritten schweigend dahin, bis sie vor einem Häuschen hielten, das etwa anderthalb Kilometer vom Kiosk entfernt war.
Die alte Frau forderte Lubji auf, mit ihr hineinzukommen und 74
führte ihn ins Wohnzimmer, wo sie ihn ihrem Mann vorstellte.
Herr Cerani erschrak zuerst beim Anblick des schmutz-
starrenden jungen Hünen; dann aber stieg Mitleid in ihm auf, als er erfuhr, daß Lubji ein jüdischer Flüchtling aus Ostrau war.
Er lud ihn ein, zum Abendessen zu bleiben. Es war das erste Mal, daß Lubji wieder an einem Tisch saß, seit er von der Oberschule geflüchtet war.
Während des Essens erfuhr Lubji, daß Herr
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