Imperium
zur
Rennbahn, sondern nutzte die Zeit, hundert Blatt der zweiten Ausgabe seiner Verkaufsliste zu drucken, die er am Montag verteilte – diesmal nicht nur an die eigenen Klassenkameraden, sondern auch an die Schüler der beiden Klassen unter der seinen.
Am Dienstagvormittag, während einer Unterrichtsstunde über die britische Geschichte von 1815 bis 1867, rechnete Keith auf der Rückseite des »Reformierten Gesetzesentwurfs«
von 1832 aus, daß er bei gleichbleibender Gewinnspanne noch drei Wochen brauchte, bis er die zehn Pfund beisammen hatte, die er benötigte, um Lucky Joes unfehlbares System aus-probieren zu können.
Doch beim Lateinunterricht am Mittwochnachmittag begann Keith’ eigenes unfehlbares System zu versagen. Der Rektor kam unerwartet ins Klassenzimmer und forderte Townsend auf, ihm unverzüglich auf den Flur zu folgen. »Und bring den Schlüssel zu deinem Spind im Umkleideraum mit.« Während sie schweigend über den langen grauen Flur marschierten, reichte Mr. Jessop Keith ein Blatt Papier. Keith studierte die Liste, die er viel besser auswendig kannte als die Tabellen in seinem Lateinbuch. Pfefferminzstangen 8 Pence, Chips 4
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Pence, gefüllte Schokolade 4 Pence, Limonade 1 Shilling.
Verkauf von 17-18 Uhr am Mittwoch vor Spind 18. »Wer
zuerst kommt, mahlt zuerst.«
Keith bemühte sich, eine gleichmütige Miene beizubehalten, während er über den Flur eskortiert wurde.
Als sie den Umkleideraum betraten, sah Keith seinen
Internatsleiter und den Sportlehrer bereits vor seinem Spind stehen.
»Schließ die Tür auf, Townsend«, befahl der Rektor barsch.
Keith schob den kleinen Schlüssel ins Schloß und drehte ihn langsam; dann schwang er die Tür auf, und alle vier blickten in den Spind. Mr. Jessop war sichtlich verblüfft, nichts weiter darin zu erblicken als einen Cricketschläger, ein Paar alte Kniepolster und ein zerknittertes weißes Hemd, das offenbar seit Wochen nicht mehr getragen war.
Der Rektor sah verärgert aus, der Internatsleiter verdutzt, und der Sportlehrer verlegen.
»Könnte es sein, daß Sie den Falschen verdächtigt haben?«
fragte Keith mit Unschuldsmiene.
»Mach die Tür wieder zu, und geh sofort zum Unterricht zurück, Townsend«, wies der Rektor ihn an. Keith gehorchte mit gleichmütigem Kopfnicken und schlenderte über den Flur zurück.
Als er wieder an seinem Pult saß, erkannte Keith, daß er sich entscheiden mußte, was er nun tun sollte. Sollte er seine Ware in Sicherheit bringen und seine Investition retten? Oder sollte er einen kleinen Hinweis geben, wo die Ware vielleicht gefunden werden könnte, und auf diese Weise ein für allemal eine alte Rechnung begleichen?
Desmond Motson drehte sich um und starrte Keith an. Er war sichtlich überrascht und enttäuscht, daß Townsend wieder auf seinem Platz war.
Keith bedachte ihn mit einem breiten Lächeln. Nun wußte er, welche Entscheidung er treffen mußte.
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THE TIMES
9. März 1936
Deutsche Truppen im Rheinland
Als die Deutschen die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes vertragswidrig besetzt hatten, hörte Lubji zum erstenmal den Namen Adolf Hitler.
Seine Mutter war jedesmal zutiefst entsetzt, wenn sie in der Wochenzeitschrift des Rabbi von den Untaten des Führers las.
Sobald Zelta mit einer Seite fertig war, reichte sie diese ihrem ältesten Sohn. Sie hörte erst zu lesen auf, wenn es zu dunkel für sie wurde, um die Worte entziffern zu können. Lubji konnte für gewöhnlich noch einige Minuten länger lesen.
»Müssen wir alle den gelben Judenstern tragen, falls Hitler über unsere Grenze kommt?« fragte er.
Zelta tat so, als wäre sie eingeschlafen.
Seit einiger Zeit konnte sie es vor den anderen Familien-mitgliedern nicht mehr verbergen, daß sie von allen ihren Kindern Lubji am liebsten hatte – und das, obwohl sie ihn verdächtigte, am Verschwinden ihrer kostbaren Brosche schuld zu sein. Voller Stolz hatte sie verfolgt, wie er zu einem großen, gutaussehenden jungen Burschen herangewachsen war. Doch in einem Punkt blieb Zelta eisern: Trotz Lubjis Erfolgen als Händler, von denen zugegebenermaßen die ganze Familie profitierte, mußte er Rabbi werden. Sie selbst mochte ihr Leben vergeudet haben, doch Lubji sollte seine Chance nutzen.
Während der vergangenen sechs Jahre hatte Zeltas Onkel, der Rabbi, Lubji jeden Vormittag in seinem Haus auf dem Hügel unterrichtet. Gegen Mittag entließ er ihn dann, damit er zum Markt zurückkehren konnte, wo er inzwischen einen eigenen Stand
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