In sueßer Ruh
dich um andere in deiner Umgebung kümmerst. Und Joselin hatte sich ihr ganzes Leben lang um andere gekümmert. Jetzt war es an der Zeit, hatte sie beschlossen, ein paar Dinge für sich zu tun – angefangen mit einer Stunde Zeit am Tag für sich allein.
Madre mía , dachte sie, wer konnte denn um diese Zeit schon da sein? Im Empfangsbereich war niemand, deshalb stellte sie ihren Kaffee auf die Anmeldung und ging weiter zum Hinterzimmer, in dem die speziell angepassten Krankenhausbetten für die Blutspender standen. Auch hier war niemand, die Bettenreihen warteten auf den beständigen Strom Freiwilliger, die jeden Tag herkamen. Seit 9/11 ging es belebter zu als gewohnt, sodass man zwei weitere Mitarbeiter hatte anstellen müssen.
Joselin ging weiter auf das kleine Labor im rückwärtigen Teil der Einrichtung zu, wo das Blut gelagert und auf Verunreinigungen und ansteckende Krankheiten untersucht wurde. Die Leute mussten zwar ein Formular ausfüllen, logen jedoch gelegentlich bei der entscheidenden Angabe, ob sie HIV -positiv waren. Joselin dachte immer gern das Beste von den Menschen und versuchte, sich selbst zu überzeugen, dass einige es einfach vergaßen – aber wie sollte jemand vergessen können, ob er Aids hatte oder nicht?
Sie hörte Geräusche aus dem Labor. Es hörte sich an, als ließe jemand eines der Geräte laufen, mit denen die roten Blutzellen von den Blutplättchen getrennt wurden.
»Hallo?«, rief sie. »Wer ist da?«
Als sie die Labortür erreichte, sah sie sich einem Mann gegenüber – genauer gesagt, seinem Kinn. Joselin war nur eins sechzig, er dagegen locker über eins achtzig.
»Hallo«, sagte er gut gelaunt, blieb allerdings auf der Türschwelle stehen und versperrte ihr den Weg ins Labor, »ich bin Ihr neuer Assistent.«
»H-hallo«, erwiderte sie verwirrt. Er war schlaksig und sehr blass, hatte glatt zurückgekämmtes schwarzes Haar und lange, schmale Hände. Seine konservative Kleidung sah aus, als stamme sie aus einem Laden für Vintage-Klamotten: Nadelstreifenhose, ein gestärktes weißes Hemd und Schnürschuhe.
»Man hat mich von White Plains hergeschickt«, erklärte er und hielt ein Blatt Papier in die Höhe. »Das ist mein Versetzungsschreiben.« Seine Stimme klang eigentümlich, förmlich – irgendwie britisch –, aber irgendetwas daran kam ihr künstlich vor.
Sie runzelte die Stirn. »Davon hab ich gar nichts gehört.«
»Typisch Bürokratie«, meinte er kopfschüttelnd. »Na ja, hier bin ich, und ich schätze, Sie haben mich jetzt am Hals. Sie sind Joselin Rosario, richtig?«
Sie nickte. »Woher haben Sie –«
»In White Plains hat man mir gesagt, dass ich Ihnen unterstellt bin. Ich bin der neue Medizinisch-Technische Assistent und werde hauptsächlich für die Blutabnahmen zuständig sein.« Er lächelte, jedoch nur mit dem Mund. In seinen grünen Augen lag etwas Forsches und Hungriges.
»Na schön«, sagte sie. Sie hatte einen Antrag für einen neuen Laboranten gestellt, war jedoch überrascht, dass er so schnell bewilligt worden war. Eigentlich war sie es gewöhnt, sich wochenlang durch irgendwelchen bürokratischen Papierkrieg zu arbeiten. »Sie können – äh«, sagte sie und schaute an seiner Schulter vorbei in den Raum. »Haben Sie gerade die Blutzentrifuge benutzt? Ich dachte, ich hätte sie laufen hören.«
»Nein«, erwiderte er mit großen Augen und beteuerte so ganz demonstrativ seine Unschuld. Aber Joselin hatte drei Kinder unter zehn Jahren und war geübt darin, Lügnern auf die Spur zu kommen. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Sie hatte das eigenartige Gefühl, dass irgendwas an diesem jungen Mann etwas anderes war, als es den Anschein hatte. White Plains hin oder her, sie würde ihn sehr genau im Auge behalten müssen.
KAPITEL 9
Lee stieß die Tür zu Chucks Büro auf. Auf dem Schreibtisch ruhten ein paar exquisite schwarze Stöckelschuhe, in denen zwei nicht minder exquisite Beine steckten. Oh-oh: Susan Beaumont Morton war da.
»Ja, hallo, Süßer«, sagte sie, legte die Modezeitschrift weg, in der sie las, und streckte ihren langen, sorgfältig trainierten Körper. »Nein, so was, dass ich dich hier treffe.«
Von wegen »nein, so was«. Hätte Lee wetten müssen, hätte er darauf gesetzt, dass sie über sein Kommen Bescheid gewusst und es eingerichtet hatte, zur selben Zeit da zu sein. Susan Beaumont Morton war keine Frau, die die Dinge dem Zufall überließ. Wenn sich etwas (oder jemand) nicht steuern ließ, erachtete sie es als
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