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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Sonnenlicht. Die mächtigen Leiber der Schlachtrösser hoben und senkten sich im Galopp, die Erde erzitterte unter ihren Hufen. Es waren acht Männer – an der Spitze Brian Guiltmore, dahinter sieben Ritter –, und sie verströmten eine geradezu unheimliche Aura.
    John nahm seinen Lauf wieder auf. Seine Füße fühlten sich an, als seien sie aus Blei, sein Herz raste. Er bekam kaum noch Luft zum Atmen.
    Und dann – nach seinem Empfinden viel zu früh – spürte er einen Stiefeltritt im Rücken, der ihn jäh von den Beinen riss. Hilflos stürzte er zu Boden und überschlug sich. Einen Moment lang schienen die Naturgesetze nicht mehr zu existieren, es gab weder oben noch unten. Die ganze geordnete Welt schien aus den Fugen geraten zu sein. Ein wildes, sich drehendes Chaos.
    Bis John seine Sinne wiederfand, hatten ihn seine Verfolger umstellt. Die sieben Ritter thronten nach wie vor auf ihren Rössern, nur Guiltmore war abgesessen. Mit schweren Schritten kam er auf John zu. Auf seinem Gesicht lag das selbstgefällige Lächeln des Siegers.
    Du kommst dir wohl mächtig toll vor, Brian, dachte John. Acht Bewaffnete gegen einen wehrlosen Mann, der seit zwei Wochen kaum etwas gegessen hat. Glänzende Leistung!
    Die ungleichen Voraussetzungen schienen Guiltmores Triumphgefühl jedoch nicht zu beeinträchtigen. Noch immer grinsend zog er sein Schwert und zielte damit auf Johns Adamsapfel. Beinahe genießerisch sagte er: »Seid gewiss, John McNeill, dass ich Euch beim geringsten Versuch der Gegenwehr den Kopf vom Leibe …«
    Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment unterbrach ihn eine kleine, blechern klingende Melodie: die ersten Takte von Mozarts kleiner Nachtmusik. Dann eine kurze Pause und noch mal die Melodie.
    John stöhnte hörbar auf und schob die auf seinen Hals gerichtete Schwertspitze beiseite. »Verdammt noch mal, Brian! Du hast doch wohl nicht dein Handy dabei? Du weißt ganz genau, dass das auf dieser Insel verboten ist!«
    Guiltmore verdrehte die Augen, ging aber nicht darauf ein, sondern eilte zu seinem Pferd. Während die Melodie ein drittes Mal ertönte, fand er sein Gerät und nahm das Gespräch an.
    Seufzend stand John auf. Nicht einmal hier war man sicher vor dem Diktat der modernen Technik. Dabei war genau das der Sinn von Caldwell Island: Luxus und Überfluss des einundzwanzigsten Jahrhunderts hinter sich zu lassen, um das mittelalterliche Leben so realistisch wie möglich kennenzulernen.
    »Ja, Stacy«, sagte Guiltmore gerade. Mit Tunika, Kettenhemd und Mobiltelefon wirkte er irgendwie lächerlich, fand John. »Mach ich. Ich geb ihn dir – obwohl Telefonate auf dieser Insel eigentlich verboten sind.«
    Guiltmore hielt John das Gerät hin. »Für dich«, sagte er schmunzelnd. »Es ist Stacy.«
    John bemühte sich, Guiltmores Grinsen zu ignorieren, und nahm das Handy entgegen. Stacy arbeitete seit über acht Jahren für ihn als Sekretärin. Sie wusste, dass ihm der Aufenthalt auf Caldwell Island weit mehr bedeutete als ein gewöhnlicher Urlaub. Caldwell Island war für ihn wie eine Flucht in eine andere Welt. Wenn sie ihn dennoch hier anrief, musste es dafür einen triftigen Grund geben.
    »Was gibt's, Stacy?«, fragte er. Ihre Antwort bekam er aber nicht mehr mit, denn in diesem Moment ertönte vom Meer her das gewaltige Dröhnen eines Motors, und hinter dem sichelförmigen Rand der Steilküste erschien der mächtige, dunkle Fleck, den John zuvor gesehen hatte, jetzt jedoch mit klaren Konturen: ein bulliger Hubschrauber, der tief über der Erde flog. Das Stakkato der Turbinen war ohrenbetäubend laut. Unter den Luftverwirbelungen der Rotorblätter erzitterten Wiesen, Felder und Sträucher. Die Kronen der Eichen und Buchen zuckten wie von Geisterhand geschüttelt hin und her. Als der Hubschrauber über John und die anderen hinwegratterte, wurden die Pferde so nervös, dass sie sich aufbäumten. Eins warf sogar seinen Reiter ab und preschte in Panik davon.
    Verdammt noch mal, was soll das?, dachte John aufgebracht. Er sah der stählernen Libelle hinterher, die direkt auf Caldwell Castle zuflog. Als der Pilot erkannte, dass es weder im Burghof noch vor dem Tor genug Platz für eine Landung gab, ließ er die Maschine am Fuß des Hügels zur Erde herabsinken. Sanft setzte das dröhnende Ungeheuer im weichen Gras auf, unweit der Bauernhütten. Dann wurde der Motor abgestellt, und während die Rotorblätter sich allmählich ausdrehten, erstarb auch der infernalische Lärm.
    »Stacy, sind Sie noch

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