Incognita
Kapitel 1
John Callum McNeills Magen knurrte wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Bereits tagelang ernährte er sich hauptsächlich von dem, was der Wald ihm bot, im Wesentlichen waren das wilde Beeren, Bucheckern und ein paar Eicheln. Gelegentlich hatte er sich auf den angrenzenden Obstwiesen ein paar Äpfel und Pflaumen gepflückt, und einmal hatte er es sogar gewagt, aus einer Bauernkate ein Stück Brot und einen alten Schinken zu stehlen. Auf diese Weise hielt er sich über Wasser, dennoch begleitete ihn der Hunger auf Schritt und Tritt.
Auch äußerlich zeigten sich bei John bereits deutliche Anzeichen von Armut – zwei Wochen im Wald hatten den einstigen Burgherrn in einen Bettler verwandelt. Seine einstmals strahlend blaue Tunika war ebenso verdreckt und zerschlissen wie seine Beinlinge und das Leinenhemd. Eine dicke Kruste aus getrocknetem Schlamm überzog seine Lederstiefel. In seinem Gesicht klebte ebenfalls Erde. Sein dichtes, braunes Haar fühlte sich verfilzt an, und sein Bart, obwohl erst vierzehn Tage alt, juckte unerträglich. Was hätte er für eine anständige Rasur und ein wohltuendes heißes Bad gegeben! Vermutlich bevölkerte inzwischen eine ganze Armee von Insekten seinen Körper, aber darüber wollte er lieber nicht so genau nachdenken.
Heute Morgen, als er sich über eine Pfütze gebeugt hatte, um zu trinken, war er beim Anblick seines eigenen Spiegelbildes erschrocken. Was ihm da entgegenstarrte, war nicht der John McNeill, den er kannte. Nicht der stolze, gepflegte Neununddreißigjährige, der jeder Lebenslage gewachsen schien, sondern ein abgehalfterter Vagabund ohne Zukunft. Seine Wangen wirkten hohl, seine Frisur verwahrlost, seine Miene stumpf. Nie hätte er sich träumen lassen, dass das Leben im Wald ihm dermaßen zusetzen würde.
Wieder meldete sich das Hungergefühl – so intensiv, dass John beinahe schlecht wurde. Vor seinem geistigen Auge nahm ein saftiger Braten Gestalt an, der über einem offenen Feuer brutzelte und einen herrlichen Duft verströmte. Es kam ihm so vor, als habe er schon seit Monaten kein Fleisch mehr gegessen, dabei war der letzte Festschmaus erst zwei Wochen her.
Hätte er sich aufs Fallenstellen verstanden, wäre seine Situation vielleicht erträglicher gewesen, aber bislang hatte dafür nie die Notwendigkeit bestanden. In der vergangenen Woche hatte er mehrmals versucht, Kaninchenschlingen zu legen – vergeblich. Die ersehnte Beute war nicht einmal in die Nähe der Fallen gekommen. Und mit seinem improvisierten Speer – einem angespitzten Ulmenast – hatte er auch kein Glück gehabt. Schließlich hatte John McNeill einsehen müssen, dass er mit seinen unbeholfenen Jagdmethoden nur Kraft vergeudete, und sich aufs Sammeln von Beeren und Früchten verlegt.
Nicht einmal ein Dach über dem Kopf hatte er. Er hauste in einer kleinen, zugigen Felsenhöhle, die als Schlafplatz gerade groß genug war und die er sich mit allerlei Ungeziefer und Kleingetier teilen musste. Eine wärmende Decke oder gar ein Bett, so wie er es gewohnt war, gab es hier nicht. Sein Lager bestand aus zusammengescharrtem Laub, das kaum dazu angetan war, die Nachtkälte fernzuhalten.
Aber wenn man einer Intrige zum Opfer gefallen war und aus der Burg verstoßen wurde, konnte man es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Die Höhle war immerhin besser als gar nichts. Zumindest bot sie ihm Schutz vor dem Regen, der in letzter Zeit reichlich fiel.
Seinem Magen entrang sich ein laut vernehmbares Knurren. So kann es nicht weitergehen, dachte John. Ich muss mir etwas zu Essen besorgen. Etwas Vernünftiges – ein Stück Fleisch, ein paar Würstchen, etwas in der Art. Ich muss in die Burg. Bei der Gelegenheit kann ich vielleicht auch ein bisschen die Lage auskundschaften. Wäre doch gelacht, wenn ich mir meinen Besitz nicht irgendwie zurückholen könnte. Ich werde Augen und Ohren offenhalten, vielleicht kommt mir dann eine zündende Idee. Kurzentschlossen machte er sich auf den Weg.
Am Waldrand blieb er stehen, um einen Moment lang zu verschnaufen. Währenddessen schweifte sein Blick über die weite Senke, die sich vor ihm auftat – ein Mosaik aus saftig grünen Wiesen, Obstbaumbeständen und bewirtschafteten, goldgelben Ackerflächen, auf denen Weizen, Gerste, Hafer und Mais wuchsen. Dieses Land war so fruchtbar! Doch trotz des Überflusses gab es weit und breit nichts, was Johns verwöhnten Gaumen reizte. Er konnte keine Äpfel und Pflaumen mehr sehen, und wie man aus Getreide Brot
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