Inkarnationen
es selbst das kärgliche Licht des Mondes und der Gestirne noch abweisen.
Die Frau wußte, daß sie Furcht oder wenigstens doch Erschrecken hätte empfinden müssen. Statt dessen jedoch verspürte sie nur vage Erleichterung. Weil jemand gekommen war, der sie ihre Einsamkeit für den Moment vergessen ließ.
»Wer bist du?« fragte der Mann.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise. »Aber man sagte mir, ich hieße Lilith.«
»Dann bist du wie ich. Auch ich erinnere mich nicht. Und ich kenne noch nicht einmal meinen Namen ...« Er lächelte, und sie erwiderte es zaghaft.
»Sieh!« sagte er und wies nach oben, zum Mond hin. Ein Schatten verdunkelte das Rund, lange genug, daß sie beide die Konturen erkennen konnten.
»Ein Adler ...«, flüsterte die Frau.
»... der ein Zicklein geschlagen hat«, ergänzte der Mann.
»Das könnte bedeuten, daß in der Nähe ein Gehöft zu finden ist -vielleicht sogar ein Dorf«, meinte er dann.
»Dann laß uns gehen«, forderte sie ihn auf.
Und so gingen sie. So einträchtig nebeneinander, als hätten sie schon immer zusammengehört, schritten sie dem neuen Tage zu.
Hunger hatten sie beide nicht.
Allein ihr Durst wuchs. Doch keine Quelle, die sie an ihrem Wege fanden, vermochte ihn zu stillen.
Erst als sie in einem Dorf anlangten, dessen Häuser sich wie Schlachtvieh angstvoll in eine weite Senke duckten, keimte namenlose Hoffnung in ihnen.
Doch die Frau und der Mann ohne Erinnerung wußten diese Hoffnung nicht zu erfüllen.
Nicht mehr.
ENDE
Der Hochsitz
Leserstory von Pal Lamian
Die Lichtung lag tief im Inneren des Waldes, dort, wohin sich normalerweise niemand verirrte, nicht am hellichten Tage und erst recht nicht nachts. Hier konnte er im Schutz der Dunkelheit und Abgelegenheit seiner Leidenschaft nachgehen - der Jagd.
Stundenlang, manchmal die ganze Nacht hindurch, lag er auf der Lauer, um die Umgebung mit dem großäugigen Feldstecher zu beobachten und mit dem Zielfernrohr potentielle Trophäen anzuvisieren.
Am Rande der Lichtung stand der Hochsitz. Er hatte ihn bei einem seiner Streifzüge entdeckt und bediente sich seiner, seit er sicher war, daß er von niemandem mehr benutzt wurde. Das Holz war noch gut, die ganze Konstruktion stabil und sicher.
Heute hatte er hier oben im Schatten der Tannen, die ihn vom bleichen Mondlicht abschirmten, Stunde um Stunde verbracht, ohne daß irgend etwas passiert war. Kein Wild. Keine registrierbare Bewegung in seinem Blickfeld. Rein gar nichts. Nur das monotone Winken von Ästen und Straucharmen, die im leise heulenden Wind hin und her gebogen wurden.
Ihm war nicht kalt. Er hatte sich gut auf eine weitere Nacht hier draußen vorbereitet und trug einen dick gefütterten Mantel, Ther-mo-Hosen und Snowboots, einen wollenen Pullover mit hohem Rollkragen, ein langärmeliges Shirt und schließlich noch ein Unterhemd. Das Gesicht hatte er mit einem Schal vermummt, auf seinem Kopf saß eine Pudelmütze. Außerdem stand eine Thermoskanne mit Kaffee bereit, in der Tasche lagen einige Brote, und zu guter letzt hatte er auch noch eine Flasche Hochprozentigen dabei. So erwartete er gut über die Runden zu kommen in dieser Nacht.
Es war Rauschzeit - Dezember. Hochzeit des Schwarzwildes.
Die Bäume waren kahl. Nackte Skelette, schwarz und knöchern wie abstrakte Gestalten, die ausgehungert und gierig ihre Glieder nach ihm ausstreckten. Man konnte vieles in diesen windbewegten Ästen sehen. Hier oben war ein Spielplatz der Phantasie.
Sein Gewehr lehnte am Geländer in Griffbereitschaft. Geladen. Entsichert. Jederzeit schußbereit.
Er erhob sich immer wieder von seinem Klappstuhl, um die Beine zu bewegen und erneut den Blick über die Lichtung streifen zu lassen. Entdecken konnte er jedoch rein gar nichts. Wie schon die ganze bisherige Nacht hindurch. Immerhin geschlagene vier Stunden der absoluten Stille und beißenden Kälte.
Immer wieder griff er nach der Waffe. Meistens nur, um die behandschuhten Fingergelenke in Bewegung zu halten.
Seufzend stieß er einen Schwall nebligen Atems durch den wollenen Filter vor seinem Gesicht hindurch. Hinter dem Schal klang seine Stimme gedämpft. Im nächsten Moment erstarrte er, als eine Stimme zu ihm herangeweht wurde.
»Wen haben wir denn da?«
Von irgendwoher war die leise Stimme zu ihm herübergeweht worden. Er lauschte in die Dunkelheit. Augenblicklich war alle Müdigkeit von ihm abgefallen, und er atmete nur noch flach. Dennoch kam es ihm vor, als würde er so deutlich vernehmbar
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