Inkarnationen
sich das Geländer aus seiner Befestigung löste und zusammen mit den Resten der Leiter zum Erdboden hinab -stürzte. Und als das Geräusch eines schweren Körpers, der dumpf auf den gefrorenen Waldboden prallte, sich in das Splittern von brechendem Holz mischte .
Dann kehrte für einen Moment die Stille zu dem am Lichtungsrand stehenden Hochsitz zurück.
Für eine halbe Ewigkeit .
In Wahrheit vergingen nur Sekunden, doch der Wilderer hatte jedes Gefühl für Zeit verloren.
Sein Atem drang stoßweise aus dem weit geöffneten Mund und schwebte in nebligen Wolken davon. Hinauf in die Finsternis des Nachthimmels. Seine Hände schienen am Geländer festgefroren zu sein, seine Füße mit dem reifüberzogenen Boden der Plattform verwachsen .
War das nicht eben eine Bewegung gewesen?
Dort wieder! Am Fuße des Hochsitzes!
Irgend etwas machte sich dort unten an den Stützpfählen zu schaffen. Als er es für einen Moment im Mondlicht zu erkennen glaubte, schwand sein Fluchen zu einem kraftlosen Hauch. Als hätte ihm et-was alle Kraft aus dem Körper gesogen .
Das Knurren umkreiste den Hochsitz. Immer und immer wieder. Ein glühendes Augenpaar funkelte zu ihm herauf.
Wie lange war er jetzt schon hier oben? Er wußte es nicht.
Die Kälte schnitt ihm in die Haut. Er umwickelte zum wiederholten Male sein Gesicht mit dem klammen Schal und zog sich die Pudelmütze tief in die Stirn.
Das Knurren formte wieder Worte, hervorgepreßt unter glühender Wut, artikuliert in einer Kehle, die nicht zum Sprechen geeignet war ...
»Niemand wildert in meinem Wald!«
Ein Zittern lief durch die ganze Holzkonstruktion, als das Wesen dort unten die Pfähle packte und sie zu brechen versuchte .
Der Wilderer preßte die Lider aufeinander, als könne er dadurch alle Gefahr aus der dunklen und eisig kalten Welt schaffen .
Niemand würde ihm zu Hilfe kommen. Nicht umsonst hatte er einen weit abgelegenen Teil des Waldes ausgewählt, in den sich kein vernünftiger Mensch verirrte.
Vielleicht würde man irgendwann die zerstörten Überreste des alten Hochsitzes finden. Aber würde man auch die Reste des Mannes entdecken, der auf der Plattform gestanden hatte?
Und seinen Mörder?
Wer konnte schon der Fährte folgen, die in das Unterholz hineinführte und sich in der Tiefe des frierenden Winterwaldes verlor?
© Klaus Giesert, Semmelländerweg 10, 13.593 Berlin
ENDE
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