Ins Nordlicht blicken
geholfen, ihre neue Wohnung zu renovieren. Ein Nachbar rief durchs Treppenhaus, dass New York gerade in den Fluten versinkt, und wir haben alle zusammengesessen, um die Bilder anzusehen ...« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie immer noch nicht glauben, was sie gesehen hatte, dann lächelte sie. »Meine Schwester hat dadurch ihren Freund kennengelernt, er wohnt im selben Haus. Sie ist immer noch total verknallt.«
»Ja«, sagte Jonathan. »Jedem Ende wohnt ein Anfang inne.«
»Hesse. Haben wir auch in der Schule gelesen.« Shary hob ihr Orangensaftglas und prostete ihm zu. »Auf das Ende dieser Reise.« Sie grinste ihn an, streckte den Rücken und machte eine förmliche Verbeugung. »May I introduce myself – Shary Enoksen.«
»Jonathan Querido. Nice to meet you.« Jonathan stieß mit seiner Milchkaffeeschale gegen ihr Glas.
»Querido? Ist das nicht spanisch?«
»Das ist ein philippinischer Name. Der Geliebte. Aber wie wir gerade festgestellt haben, sagt ein Name nicht viel aus.«
»Stammst du von den Philippinen? Ich dachte, dass du Grönländer bist.«
Jonathan trank seinen Kaffee aus, der ihm plötzlich nicht mehr schmeckte. »Ach, vergiss es«, sagte er. »Vielleicht sollten wir das mit den Namensschildchen lassen. Manchmal verwirren sie nur.«
Jetzt sah sie ihn mit aufreizender Offenheit an. »Ich weiß nicht ... Es könnte ganz reizvoll sein, ein bisschen Verwirrung zu stiften, Jonathan Querido.«
Jonathan wich ihrem Blick aus und stand abrupt auf. »Kann sein«, sagte er. »Aber ich glaube, ich muss jetzt los. Ich will noch ein paar Telefonate führen. Sorry.« Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da tat es ihm schon leid, wie brüsk er zu ihr war. Aber so war das nun mal. Um nichts in der Welt war er jetzt in der Stimmung, sich auf eine Frau einzulassen. Und schon gar nicht auf eine wie sie. Auf eine wie Maalia.
Sie sah ihn aus ihren mandelförmigen schwarzen Augen an und wieder senkte Jonathan den Blick, weil er die Nähe nicht aushielt, die sie zu ihm suchte. Verdammt noch mal, sie sollte ihn in Ruhe lassen. In ein paar Stunden, wenn sie in Nuuk Station machten, würde er sowieso von Bord gehen. Und wer weiß, ob er überhaupt dabei sein würde, wenn das Schiff nach Hamburg zurückfuhr. Nein, Shary Enoksen musste sich für ihre Flirtversuche jemand anderen suchen.
Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011
warum hast du aufgegeben? deine chancen waren gut
zu viel krach im haus
kleine geschwister, oder?
quatsch nicht. würfel endlich
immer noch schlechte laune?
Statt einer Antwort ließ ich die Würfel klackern. Es war ein gutes Geräusch, irgendwie unbeschwert und fast so, wie ich es von früher in Erinnerung hatte, als ich mit meiner Großmutter gespielt hatte. Ein altmodisches Geräusch, ein altmodisches Spiel, total uncool.
Wir spielten ein Spiel nach dem anderen. Doch ich war einfach nicht bei der Sache. Im Zimmer meines Vaters war es still geworden, sein Brüllen war verebbt, und als ich auf den Flur ging, sah ich, dass seine Jacke nicht am Haken hing. Er war rausgegangen. Zum Trinken. Das wusste ich, weil er nicht kurz zu mir reingeschaut hatte, um Tschüss zu sagen. Sein schlechtes Gewissen hing noch in der Luft, nistete in unserem ungelüfteten, engen Flur, sodass ich unwillkürlich die Nase verzog. Ich überlegte, ob ich ihm nachgehen sollte, ihn stoppen, aber es hatte eh keinen Sinn. Niemand konnte ihn stoppen, ihn nicht und all die anderen nicht, die sich genau wie er den Verstand aus dem Schädel soffen, egal wie teuer der Sprit auch war. Ich starrte die leeren Bierflaschen an,die neben dem PC auf meinem Schreibtisch standen, und fegte sie vom Tisch. Sie kollerten auf den Holzboden, auf dem nur ein dünner Baumwollteppich lag. Es klang wie das Rollen der Würfel auf dem Bildschirm. Ich wollte nicht trinken. Ich wollte nicht so werden wie mein Vater, so ein Verlierer. Ich wollte mein eigenes Leben leben.
Ich hatte mein FS-10-E Examen in der Tasche, eins, das ich nicht gerade gerne herausholte. Die einzigen Fächer, in denen ich geglänzt hatte, waren die, in denen man nicht reden musste. Klar, ich hatte ja erst mit neun Jahren Grönländisch und Dänisch gelernt. Das ganze erste Schuljahr in Nuuk hatte ich kein einziges Wort gesagt. Stumm hatte ich neben Aqqaluk gesessen, der mir alle fünf Minuten freundlich zulächelte und der mich abschreiben ließ und mir manchmal sogar die Hausaufgaben machte, obwohl ich ihn kein einziges Mal darum gebeten hatte. Aber wäre ich in
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