Marx, my Love
1. Kapitel
Harter Regen fällt auf das Blechdach, unter dem die Rothaarige Zuflucht gesucht hat. Keinen Schirm zu besitzen ist eine lächerliche Form des Anarchismus, außer wenn es schüttet, als wäre die Sintflut kein biblisches Märchen. And it’s a hard rain’s a-gonna fall, summt die nasse, fette Katze, um sich zu trösten. Dylan ist kein junger Wilder mehr und sie beinahe fünfzig, was ihr vor vielen Jahren als Alter erschien, in dem man fast tot ist. Der Perspektivenwechsel vollzieht sich in Jahrzehnten. Als sie dreißig wurde, dachte sie, dass sie noch zehn gute Jahre vor sich habe. Mit vierzig noch einmal, jedoch mit weniger Zuversicht.
Anna Marx wird in siebzehn Tagen fünfzig, und sie steht an der Mauer eines alten Hauses, dessen Einschusslöcher schlimme Geschichten erzählen könnten. Die Frage, wie weit ihre Kamera wasserdicht ist, lenkt sie von Jahreszahlen ab. Sie predigen einem vieles im Kapitalismus, doch wenn es ernst wird, haftet keiner für den Schaden. Anna gehört zu denen, die niemals das Kleingedruckte lesen. Alles sollte groß geschrieben werden und klar und einleuchtend sein. Nichts ist wahr, das sich verstecken muss.
Wie die beiden hinter dem Fenster des Stundenhotels, der Ehemann und seine Geliebte, denen sie seit Tagen hinterherspioniert im Auftrag ihrer Klientin, die natürlich die Ehefrau ist. Was für ein beschissener Job, besonders an Regentagen. Der alte Trenchcoat, in dem sie sich wie Philip Marlowe fühlen möchte, klebt an ihrem Körper, die Imprägnierung ist längst dahin, und bis zu ihrem Tod wird sie sich nicht von diesem Kleidungsstück trennen, das sie liebt wie den alten Bademantel, den ihr ein Mann namens Philipp vor langer Zeit geschenkt hat.
Die beiden Mäntel haben noch siebzehn Tage. Aber vielleicht stirbt sie schon vorher an einer Lungenentzündung oder an der Monotonie des Wartens. Während die beiden in einem warmen Zimmer und einem weichen Bett alles Vergnügen haben, das Sex bereiten kann, steht Anna im Regen unter einem Blechdach und wartet auf den fremden Orgasmus. Damit das Paar endlich das Hotel verlässt, sie ihre Fotos machen und verschwinden kann.
Wenn es vorbei ist, geht der Mann zurück ins Büro, und die Frau steigt in ein Taxi, das er ihr bezahlt. Die Geliebte trägt immer dieses verräterische Lächeln postkoitaler Zufriedenheit im Gesicht. Vom Hotel fährt sie in das Kaufhaus am Ku’damm, in dem sie als Angestellte arbeitet, in der Abteilung exklusiver Damenunterwäsche.
Möglich, dass sie sich dort begegneten, wo sonst sollten sich die Wege eines Finanzberaters und einer Dessousverkäuferin kreuzen? Das Fitness-Center wäre auch eine Möglichkeit, dieser körperliche Ort, in dem Leiber einander begegnen und begehren, manchmal. Die zwei besuchen denselben Club, und der Besitzer, den Anna, als Journalistin getarnt, interviewte, meinte, dass nirgendwo »dating easier ist« als an Plätzen wie diesen. Er sprach sehr viel Englisch und sah dabei abschätzend auf Annas fitnessresistentes Fleisch, das sie in weiten Hosen, Pullovern und Mänteln tarnt. Sie verabscheute diesen Ort schon deshalb, weil man nirgendwo rauchen durfte, und sein Angebot eines kalorienarmen Energie-Drinks lehnte Anna ebenso ab wie das »kostenlose Schnupperweekend« in seinem Etablissement der Körperkultur.
»Sonntags beschäftige ich mich mit Schlafen, Lesen, Essen und Trinken«, sagte Anna und ertrug seinen verächtlichen Blick mit dem Stolz der verfolgten Minderheit. Fügte sie hinzu, dass sie Sport in jeder Form ablehnt? Egal, es war ohnehin eine Begegnung zweier Fremdlinge, und in der Sache brachte es sie nur insofern weiter, als sie sich notierte, dass die Zielsubjekte zur selben Zeit trainieren.
Auf welcher Skala fettverbrennender Leibesübungen rangiert Sex? Sie versucht, sich die beiden vorzustellen in ihrer einsamen Position schräg unter dem Fenster, auf der anderen Straßenseite. Unter dem Blechdach, das mit dem Ende der Sturzfluten verstummt ist, sodass sie nur noch den Verkehrslärm hört und das Kreischen eines Kindes, das vielleicht gerade verprügelt wird. Um so etwas kümmert sich niemand. Schnüffler vom Kaliber Annas leben vom außerehelichen Beischlaf und von eifersüchtigen Partnern.
Vielleicht ist jede Geschichte einmalig, wundervoll und schrecklich, doch für die Detektivin bedeutet sie immer nur das: beschatten, belauschen, fotografieren, Berichte und Rechnungen schreiben. Und während die ersten Fälle sie noch berührten, Liebe,
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