Insel der Schatten
hatte ich damit gerechnet, meine ersten Stunden auf der Insel damit zu verbringen, mit Mr. Archer über Testamente, verstorbene Mütter und Todesfälle zu diskutieren, aber dieses Angebot war mir entschieden lieber. »Vielen Dank! Eine Tasse Tee wäre pima. Ist es in Ordnung, wenn ich mich vorher etwas frisch mache? Ich bin seit dem frühen Morgen unterwegs und komme mir vor, als würde der Schmutz sämtlicher Landstraßen an mir kleben.«
Sie lachte. »Lassen Sie sich Zeit. Ich bin unten.« Mit diesen Worten ließ sie mich allein und schloss die Tür hinter sich.
Ich zog meinen Schlafanzug aus dem Koffer, ließ die restlichen Sachen jedoch, wo sie waren. Dann ging ich mit meiner Kulturtasche ins Bad, das zu meinem Entzücken vollkommen rund gebaut war. Es musste sich demnach in einem der Türmchen des Hauses befinden und enthielt eine riesige gekachelte Dusche und einen Whirlpool, von dem aus man durch ein Fenster auf den See hinausblicken konnte. Ein Stapel flauschiger weißer Handtücher lag neben einigen Kerzen in Gläsern, Seife, Shampoo und Lotionen auf der Ablage.
Statt weiter auszupacken kuschelte ich mich in die Fensternische, zog mir eine der Decken über die Beine und sah über das Wasser. Zu Hause war der Pudget Sund mein Ein und Alles, wo das Gebell der Seehunde und das Plätschern der Wellen immer wie ein Beruhigungsmittel auf mich wirkten. Sämtliche Schwierigkeiten meines Lebens – von den Prüfungsängsten meiner Highschool- und Collegezeit bis hin zu meiner Scheidung und der Krankheit meines Vaters – schienen sich dort wenigstens vorübergehend in Luft aufzulösen. Ein ähnliches Gefühl überkam mich jetzt, während ich über den großen See hinwegblickte. Zwar gab es weder Seehunde noch Wale, aber die friedvolle Atmosphäre war dieselbe.
Mir blieb aber nur ein Moment Zeit, um Atem zu schöpfen, ehe mich die jähe Erkenntnis überwältigte, dass ich mich in der Heimat meiner Mutter befand und auf den See hinausschaute, den sie täglich vor Augen gehabt hatte. Dies war der Ort, von dem mein Vater mit mir vor so vielen Jahren geflohen war.
Die Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Wäre ich ein paar Wochen früher gekommen, hätte ich sie noch lebendig angetroffen. Wenn sie doch nur angerufen hätte, statt zu schreiben! Wenn sie sich in ein Flugzeug gesetzt hätte und zu mir gekommen wäre! Wenn, wenn, wenn …
Tränen brannten in meinen Augen. Halb blind tappte ich ins Bad und streifte meine Kleider ab. Eine heiße Dusche würde mir jetzt guttun. Obwohl ich krampfhaft versuchte, mich zusammenzunehmen, begannen die Tränen wie von selbst zu fließen, als ich unter den dampfenden Strahl trat. Schluchzend stand ich da und ließ das warme Wasser die Meilen zwischen mir und meinem Zuhause, die Lügen zwischen mir und meinem Vater und den Kummer um den Verlust meiner Mutter abspülen.
Endlich trocknete ich mich ab, fuhr mit der Bürste durch mein Haar, zog Jeans und ein Shirt an und machte mich auf den Weg nach unten.
Mira erwartete mich im Wohnzimmer mit einer Platte mit Käse, Crackern, Gemüsesticks nebst Dip und etwas Wurst und Schinken. Als sie mich die Treppe hinunterkommen sah, goss sie mir eine Tasse Tee ein und füllte ihre eigene nach. Dann musterte sie voller Besorgnis meine verquollenen Augen und mein fleckiges Gesicht.
»Alles in Ordnung, Hallie?«
»Nur ein langer Tag«, wich ich aus.
»Verstehe«, lächelte sie verständnisvoll. »Ich dachte, dass Sie nach der anstrengenden Reise sicher Hunger haben, daher habe ich für später ein Huhn in den Ofen geschoben, aber fürs Erste dürfte das hier reichen.«
Sie hatte ein Abendessen für mich vorbereitet? Erst jetzt merkte ich, wie ausgehungert ich war. Die Handvoll Erdnüsse im Flugzeug hatte nicht lange vorgehalten.
»Das ist wirklich nett von Ihnen, Mira«, sagte ich, nachdem ich mich in einen Sessel gesetzt und an meinem Tee genippt hatte. »Damit hätte ich nicht im Traum gerechnet, und es wäre auch nicht nötig gewesen, aber ich kann nicht leugnen, dass ich mich auf eine warme Mahlzeit freue.«
»Na ja, ich bin immerhin Pensionswirtin«, schmunzelte sie, dabei stieß sie mit mir an. »Es ist mein Job, für meine Gäste zu sorgen. Und außerdem sollte ich Sie darüber informieren, wie das Leben auf der Insel außerhalb der Saison abläuft.«
Ich sah sie gespannt an.
»Als Erstes müssen Sie wissen, dass fast alle Geschäfte und Restaurants geschlossen sind.«
»Das habe ich gelesen.« Ich trank noch einen
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