Insel der Schatten
ihre Neugier nicht verübeln. Trotzdem konnte ich das Unbehagen nicht abschütteln, dass mich beschlichen hatte, als ich Madlyn Cranes Namen erwähnte. Mir war, als wäre das Misstrauen, das daraufhin in ihr aufkeimte, auf irgendeine Weise auch in meinen eigenen Körper eingesickert, wo es mich mahnte, auf der Hut zu sein.
Nach dem Abendessen zog ich mich in mein Zimmer zurück, schlüpfte in meinen Schlafanzug und kroch unter die dicke Steppdecke. Aber die Kälte in meinem Inneren wollte nicht weichen.
5
Ich schrak mit einem Ruck hoch. Ein erstickter Schrei würgte mich in der Kehle. Jemand hatte gerade mein Gesicht berührt, da war ich mir ganz sicher! Hastig setzte ich mich auf. War etwa jemand hier und beobachtete mich, während ich schlief? Mira?
Mondlicht strömte durch das Fenster und tauchte den Raum in ein gespenstisches Weiß. Mein Herz hämmerte, als ich den Blick durch das Zimmer schweifen ließ. Dort waren meine Taschen, der Fernseher, der Schrank, die Bank im Erker. Alles war so wie immer.
Ich glitt aus dem Bett und spähte ins Bad. Es war leer, genauso wie der Schrank, und auch unter dem Bett hielt sich niemand versteckt. Nachdem ich den Riegel an der Tür überprüft hatte – er war vorgeschoben und die Kette ebenfalls befestigt –, stieß ich vernehmlich den Atem aus. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.
Also war das Ganze nur ein Traum gewesen. Ich kam mir ziemlich blöde vor.
Ich versuchte, es mir wieder unter der Decke gemütlich zu machen, aber der Adrenalinstoß hatte meine Müdigkeit mehr als vertrieben. Darum wälzte ich mich ungefähr eine Stunde lang von einer Seite auf die andere und versuchte, einzuschlafen, aber mir gingen zu viele Gedanken im Kopf herum: meine Mutter, William Archers Brief und Miras misstrauische Augen.
Die leuchtenden Ziffern meines Weckers zeigten vier Uhr morgens an. Endlich gab ich auf – an Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Ich zog meinen Bademantel an, begab mich in den Erker, lehnte mich gegen die Kissen und starrte aus dem Fenster.
Nicht die Spur einer Welle war da draußen zu sehen; der See lag so still da, als wäre seine Oberfläche mit einer dünnen Eisschicht bedeckt. Das Mondlicht warf eine silbrige Säule auf das rabenschwarze Wasser, die sich bis in die Endlosigkeit zu erstrecken schien. Auf dem Festland blinkten ein paar Lichter, aber die meisten Leute waren zu dieser nächtlichen Stunde anscheinend vernünftig genug, sich in ihren Betten aufzuhalten.
Ich zog die Knie an und versuchte beim Anblick des ruhigen Wassers, meine sich überschlagenden Gedanken zu ordnen. Dann plötzlich hörte ich nicht weit vom Ufer entfernt ein Platschen.
Ich kniff die Augen zusammen und sah klar und deutlich einen Arm aus dem Wasser auftauchen. Einen menschlichen Arm! Dann einen zweiten. Weiteres Plätschern, dann erschien ein Kopf und ein nach Luft ringendes Gesicht. Dort draußen war jemand in Not! Ich sprang auf.
Aber wie war das möglich? Ich hatte doch schon einige Minuten am Fenster gesessen und weder ein Boot noch einen Schwimmer noch irgendetwas anderes gesehen. Der See hatte still wie ein Grab dagelegen.
Doch das tat jetzt nichts zur Sache. Unmöglich oder nicht, ich wusste, was ich gesehen hatte! Ich nestelte am Türriegel herum, stürzte aus dem Zimmer und stürmte die Treppe hinunter.
»Mira! Rufen Sie den Notruf an!«, rief ich, während ich die Haustür aufriss und ins Freie rannte, um besser sehen zu können, was da draußen vor sich ging. Ich hastete die Stufen hinunter und lief zum Rand der Klippe. Der kalte Boden stach wie Nadeln in meine bloßen Fußsohlen.
Nur Sekunden später war Mira neben mir. Sie hielt ein Handy in der Hand.
»Hallie! Was um alles in der Welt …«
Meine Augen starrten wie gebannt auf den See. Statt die spiegelglatte, friedliche Oberfläche aufzuweisen, die ich noch einen Augenblick zuvor vom Fenster aus gesehen hatte, war das Wasser jetzt rau und aufgewühlt. Der Wind peitschte weiße Schaumkronen auf, und große Wellen brachen sich donnernd am felsigen Ufer. Das war doch nicht möglich!
»Hallie!« Mira schüttelte meinen Arm, als wolle sie mich aus einem Traum aufwecken. »Was tun Sie denn hier draußen?«
Ich gab keine Antwort.
»Kommen Sie wieder herein, Sie holen sich sonst noch den Tod!« Sie führte mich ins Haus zurück und schloss die Tür hinter sich.
»Ich habe gesehen, wie …«
»Was haben Sie gesehen?«
Ich ging zum Fenster
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