Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Insel der Schatten

Insel der Schatten

Titel: Insel der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Webb
Vom Netzwerk:
hinüber. »Ich habe eben einen Menschen gesehen, dort draußen im See.«
    »In einem Boot?«
    »Nein. Im Wasser. Ungefähr hundert Meter vom Ufer entfernt. Vielleicht auch etwas weiter.«
    Sie musterte mich forschend, dann schüttelte sie den Kopf. »Das ist unmöglich. Sie müssen geträumt haben.«
    »Nein, das ist die Wahrheit!«, beharrte ich. »Ich war hellwach! Ich konnte nicht schlafen, deshalb habe ich mich ans Fenster gesetzt und auf den See geschaut. Und da habe ich plötzlich jemanden im Wasser gesehen, der verzweifelt versuchte, an die Oberfläche zu gelangen und Luft zu bekommen. Ich glaube, der- oder diejenige steht kurz davor zu ertrinken, Mira! Wir sollten die Polizei oder die Küstenwache oder sonst jemanden alarmieren. Nur dass …« Meine Worte verklangen. Allmählich begann ich selbst an dem zu zweifeln, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte.
    »Nur dass was?«
    »Als ich in meinem Zimmer aus dem Fenster blickte, war die Wasseroberfläche noch spiegelglatt. Ich meine, der See war ganz ruhig. Aber als ich dann nach draußen lief …« Ich sah Mira in die Augen, suchte dort nach einer Erklärung für das, was soeben geschehen war. Zum Beispiel, dass der Wind hier von einem Augenblick zum nächsten stark auffrischen konnte. Aber sie schüttelte nur den Kopf.
    »Der Sturm hat die ganze Nacht lang getobt. Haben Sie das denn nicht gehört? Das ganze Haus hat gezittert. Ich hatte schon Angst, das Getöse würde Sie wach halten.«
    Nun wusste ich gar nicht mehr, was ich denken sollte. »Aber diese Person dort draußen …«
    »Hallie«, Mira nahm sanft meine Hand, »es kann nicht sein, dass jemand im See geschwommen ist. Das ist selbst im Sommer nicht möglich, das Wasser ist viel zu kalt! Sogar im August werden Segler, die versehentlich über Bord gegangen sind, mit starken Unterkühlungen aus dem See gefischt. Und zu dieser Jahreszeit könnte niemand darin überleben.«
    Es dauerte einen Moment, bis diese Erkenntnis in mein Bewusstsein einsickerte. Sie hatte natürlich recht, es musste ein Traum gewesen sein. Nun war es an mir, mich zu entschuldigen.
    »Entschuldigung, Mira. Ich komme mir vor wie eine Idiotin … wecke Sie mitten in der Nacht auf und renne wie eine Verrückte aus dem Haus.«
    Meine Wirtin lächelte. »Zerbrechen Sie sich deswegen nicht den Kopf. Diese Insel hat etwas an sich, was oftmals eine seltsame Wirkung auf die Menschen ausübt. Ich hätte das schon früher erwähnen sollen. Ich glaube, es liegt an der Atmosphäre hier – die Fantasie der Leute treibt wahrlich lebhafte Blüten, wenn sie eine Weile auf Grand Manitou sind. Viele Künstler kommen hierher, weil sie sich von dem Aufenthalt hier neue Inspirationen erhoffen. Und nicht nur das«, fuhr sie fort, als sie mich die Stufen hochgeleitete. »Sie können auch durchaus einen Geist gesehen haben.«
    Ich blieb stehen. »Das soll ein Witz sein, stimmt’s?«
    »Ganz und gar nicht.« Sie zwinkerte mir zu. »Während der Hochsaison unternehme ich mit den Touristen öfter Geistertouren. Auf dieser Insel geschehen seltsame Dinge, Hallie. Die Alteingesessenen behaupten, es hätte etwas mit den alten Legenden zu tun, denen zufolge Grand Manitou eine Art Tor zur Geisterwelt bildet. Dieser Ort wimmelt von Übersinnlichem, müssen Sie wissen. Es würde mich also gar nicht wundern, wenn Sie wirklich einen gesehen hätten.«
    Als ich wieder auf mein Zimmer zurückging, sah ich, dass sich der Himmel im Osten allmählich zu verfärben begann. Obwohl es noch so früh war, drehte ich die Dusche auf, stand lange unter dem heißen Wasser und versuchte, das Bild des Ertrinkenden aus meinem Gedächtnis zu tilgen.
    Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, kam ich zu dem Schluss, mich genauso gut gleich anziehen zu können. Nur: Was trug man anlässlich einer Besprechung mit einem Anwalt? Bequeme Jeans und einen Wollpullover? Zusammen mit einer schicken Tweedjacke würde das wohl genügen, beschloss ich. Ich hatte ohnehin den Eindruck gewonnen, dass sich die Leute hier eher leger kleideten.
    Ungeduldig kramte ich in meinem Koffer nach meinem Fön und stellte dann fest, dass der Wasserdampf vom Duschen noch immer wie ein feiner Nebel in der Luft hing. Er erinnerte mich an jenen nebligen Tag zu Hause, an dem all dies begonnen hatte. Doch dann, als ich mit der Bürste durch mein Haar fuhr, ließ ein einziger Blick in den Badezimmerspiegel meinen Atem stocken. Außen auf der beschlagenen Tür der Duschkabine prangte ein Handabdruck. Klar und deutlich

Weitere Kostenlose Bücher