Inside WikiLeaks
lokalen Chaos-Clubs. Damit war mein Tag mehr als ausgefüllt.
Doch ich war, wenn überhaupt, nur mit halbem Herzen dabei. All die Jahre über hatte meinem Leben etwas Entscheidendes gefehlt. Ein Sinn. Eine Aufgabe, für die ich wirklich brannte und für die ich alles andere stehen lassen wollte.
Der Chaos Computer Club war schon damals ein wichtiger Anlaufpunkt für mich, und die Clubräume in Berlin gehörten zu den ersten Adressen, wenn ich in die Hauptstadt kam. Wie soll ich beschreiben, was mir an den Leuten dort so gut gefiel? Sie waren alle ausgeprägte Eigenbrötler. Sehr kreative, kluge, mitunter etwas raue Menschen, die ganz sicher keine Zeit mit falscher Freundlichkeit verschwendeten. Sie zahlten einem den vermeintlichen Mangel an Sozialkompetenz mit echter Loyalität zehnfach zurück, sobald sie einen als Mitglied akzeptiert hatten. Jeder von ihnen war 24 Stunden am Tag mit irgendetwas beschäftigt. Alle Clubmitglieder waren ausgewiesene Experten in ihren jeweiligen Spezialbereichen, sei es in freier Software, elektronischer Musik, Visual Art oder Hacker-Stuff, IT -Sicherheit, Datenschutz oder Lightshows – das Spektrum ihrer Interessen war groß.
Zudem hatte der Club einen entscheidenden Vorteil gegenüber vielen anderen Communities: Er hatte einen Ort. Das ist für Menschen, die viel Zeit in digitalen Räumen verbringen, ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Im Club konnte man zusammensitzen, Probleme von Angesicht zu Angesicht diskutieren und, wie ich später feststellen durfte, in misslichen Situationen auch auf einer der zahlreichen Couches übernachten. Der Club sorgte dafür, dass die Szene regelmäßig zusammenkam, wie eben auf dem alljährlichen Kongress im BCC am Alexanderplatz.
Julian hatte sich Anfang Dezember 2007 im Chat bei mir gemeldet mit der kurzen Ansage: »Wir sehen uns in Berlin. Ich freu mich auf den Vortrag.«
Mein erster Gedanke war: Scheiße, hoffentlich klappt das auch. Bis kurz vor Beginn der Konferenz war gar nicht klar, ob er seine Rede halten konnte. Ich hatte zwar mein Bestes getan, um das zu arrangieren. Die Einreichungsfristen waren schon im August abgelaufen. Umgekehrt war ich mir genauso wenig sicher, ob ich bei den Machern des Kongresses nicht nur die Pferde scheu machte und am Tag X gar niemand von WL aufschlüge.
Wie es seine Art war, sollte Julian tatsächlich erst kurz vor knapp anreisen. Da stellte sich allerdings heraus, dass für ihn keine Rede vorgesehen war. Ich weiß bis heute nicht, ob Julian überhaupt das Papier eingereicht hatte, das man von ihm gefordert hatte. Gut möglich, dass die Leute vom Club damals das Thema WikiLeaks auch nicht so verstanden oder unwichtig fanden. Auch möglich, dass viele im Club WL eher kritisch sahen und Julian deshalb aus dem Hauptprogramm verbannt hatten. Anfangs schlugen uns in Deutschland vor allem die Bedenken der starken Datenschutz-Bewegung entgegen. »Private Daten schützen – öffentliche Daten nutzen« war die Devise. Wir bewegten uns irgendwo dazwischen, und das gab viel Stoff für Diskussionen.
Jedenfalls stand der Vortrag zu WL nicht im offiziellen Programm. Die Veranstalter hatten ihm lediglich die Möglichkeit eingeräumt, in einem der Workshopräume im Keller eine kleine Präsentation zu halten. Julian machte schon an der Kasse Ärger, weil er sich weigerte, den Eintritt zu bezahlen. Er ging davon aus, dass er aufgrund seines Vortrags automatisch freien Eintritt hätte – was die Helfer an der Kasse anders sahen. Er war nicht auf der Liste der Sprecher verzeichnet, deshalb verlangten sie 70 Euro von ihm.
Julian legte seinen Rucksack im Presseraum ab – er reiste oft nur mit einem Rucksack – und beanspruchte den Raum von da an für sich.
Der Presseraum war ein nicht sehr großes Zimmer mit dunklem Fliesenboden und einer Tischreihe, die hinter Trennwänden aufgestellt war. Der Raum befand sich im toten Winkel des ersten Stocks, ganz am Ende des Ganges. Die Jalousien vor den Fenstern waren auch tagsüber heruntergelassen. Normalerweise saßen hier die Journalisten mit ihren Laptops, um in Ruhe an Texten zu arbeiten. Julian nahm den Raum sofort in Besitz und sein Tagewerk auf, was bedeutete: Er verharrte stundenlang vor dem Rechner und hackte dabei in die Tasten. Und zwar laut.
Wollten andere den Raum auch nur eine Viertelstunde nutzen, um in Ruhe ein Radiointerview zu führen, weigerte Julian sich, den Raum zu verlassen oder zumindest seine Tastatur ein bisschen leiser zu
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