Der Auftrag
1
Der Südwind brachte Staub aus der Wüste. Er fegte über die hoch aufragenden Zinnen von Margan, der verbotenen Hauptstadt von Jawendor. Pudrig wie zermahlene Knochen legte er sich auf Tempeldächer und Palaststufen, fand jede Gasse, kroch in jeden Winkel und peitschte die Gesichter der Menschen mit einer Attacke aus winzigen Pfeilen. Dabei verschonte er weder Mächtige noch Diener. Lacunar, der Herr des Südwinds, kam herangeritten aus den Sandbergen jenseits des Stromes und fauchte wie ein Drache. Er spottete selbst König Dorons Macht, der sich in seinem prächtigen Palast vor ihm verbarg. Mit seinem Heer aus unzähligen Sandkörnern drang er in jede Ritze und sogar bis ins Schlafgemach des erhabenen Herrschers. Niemand konnte ihm gebieten, kein Priester ihn mit Ritualen besänftigen. Heiß und giftig war sein Hauch, der Himmel verfinsterte sich, und alles, was Atem hatte, floh und suchte Schutz.
Die schweren Holztore des Sonnentempels waren geschlossen worden. Amram, ein Priester niederen Ranges, scheuchte die Tempelsklaven herum, die große Reisigbesen schwangen, um der Plage Herr zu werden. Nicht nur die Treppenstufen, Höfe und Korridore mussten vom Staub befreit werden, auch die Götterstandbilder und sakralen Gegenstände durften nicht länger mit dem Auswurf Lacunars besudelt bleiben.
Der Sonnentempel, im Volk auch weißer Tempel genannt, war ein dreistöckiger Rundbau, ganz mit weißem Marmor verkleidet und von einer goldenen Kuppel überwölbt. Unter der Kuppel, die durch verschieden gefärbte Fenster das Sonnenlicht einließ, residierte Sagischvar, der Unsichtbare. Sein Name rührte daher, dass er sich nur selten unter das Volk mischte und dann auch nur von fern in einer verhangenen Sänfte. Das zweite Stockwerk wurde von den ranghohen Priestern bewohnt, den Erleuchteten oder auch Leuchtenden. Sie behaupteten, alle Geschichten von Anbeginn der Welt zu kennen, und waren für die unerlässlichen Zeremonien und Rituale zuständig, um die Stadt und das Land zu schützen.
Der Mann, der beim Licht einer Öllampe in einer alten Schrift las, war noch jung. Dennoch zählte auch er bereits zu den Sakrosankten. Niemand durfte einen Sonnenpriester berühren, auch nicht versehentlich, es sei denn, er erhielt die Erlaubnis dazu. Sein Name war Jaryn.
Der Raum lag im Dunkeln, denn er hatte die hölzernen Läden vor dem Sturm geschlossen. Die Lampe spendete nur mattes, gelbliches Licht und flackerte im Windzug, der noch durch die kleinste Spalte pfiff. Der junge Priester beugte sich mit zornig gefalteten Lippen über das Buch, die Brauen ärgerlich gesträubt. Immer wieder fuhr seine Hand über die Seiten, um hartnäckige Sandkörner zu entfernen, aber sie saßen auch in seinen Haaren, in den Falten seines Gewandes und knirschten sogar zwischen den Zähnen. Jaryn klopfte sich restliche Stäubchen aus seinem Rock. Er war aus kirschroter Seide, knöchellang und hochgeschlossen, so wie alle Priestergewänder, nur die Farbe änderte sich mit den Monaten. Rot war die Farbe des Hitzemonds.
Er hasste Schmutz. Besonders dann, wenn er ihm ausgeliefert war. Für die Reinlichkeit im Tempel sorgten Sklaven, aber wer hielt ihm diesen unerträglichen Sand aus den weißen Bergen vom Leib? Dieser Staub war mehr als lästig und galt als besonders verflucht. Weißer Sand war die tödliche Botschaft der Schwarzen Reiter, die jenseits der Wüste hausten und jedes Jahr blutige Streifzüge ins Land Jawendor unternahmen.
Jaryn merkte, dass er sich nicht auf die Schrift konzentrieren konnte, seine wütenden Gedanken zerstoben in alle Richtungen. Deswegen nahm er eine kleine Scheibe mit einem eingravierten Gottesbild zur Hand, küsste sie und drückte seine Stirn dagegen. Das machte ihn ruhig, denn so fühlte er sich eins mit Achay, dem hellen Bruder des dunklen Zarad, der gleich gegenüber im schwarzen Tempel der Mondpriester hauste. Bestimmt hatte jener Lacunar mit Beschwörungen dazu gebracht, den Sandsturm zu schicken.
Nach ihrem Lichtgott Achay nannten sich die Sonnenpriester auch die Achayanen, während sie die anderen verächtlich Zaradulen – Zarads Sklaven – nannten. Zwischen den beiden Tempeln herrschte eine Feindschaft, die weit in die Jahrhunderte zurückreichte und deren Anlass vergessen war.
Auch Jaryn verachtete die Mondpriester, die der Nacht gehörten und deren Aufgabe es war, Dämonen zu beschwören oder zu beschwichtigen, Zaubersprüche aufzusagen, Rituale mit schwarzen Tieren und schwarzen Gegenständen zu
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