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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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«Sie würden sich’s zweimal überlegen, bevor Sie mich nach Covent Garden schicken, nehme ich an.»
    Jury warf ihm ein strahlendes Lächeln zu. «Nicht zweimal, einmal. Sie können sich jederzeit mit ihm unterhalten, sobald ich mit ihm fertig bin.»
    «Danke. Was ist mit diesem Freund von Marr? Paul Swann.»
    «Hab noch nicht mit ihm gesprochen. Er ist in Brighton.»
    Wiggins bekam das kalte Grausen. «Um diese Jahreszeit.» Er schüttelte langsam den Kopf.
    «Sie können Ihren Mantel ruhig ausziehen, Macalvie. Die hiesige Polizei wird Sie nicht anstecken.»
    Macalvie öffnete zwei Knöpfe. Sein Blick wanderte wieder zum Fernseher zurück, wo das eichhörnchenartige Geschwätz des Asiaten von den Zwölfuhrzwanzignachrichten abgelöst worden war. Weiterer Terroranschlag am römischen Flughafen. Kind im Dart ertrunken. Alter Mann überfallen. «Vielleicht gibt es ja noch Schlimmeres als Mord», sagte er.
    «Vielleicht, aber ich bezweifle es.»
    «Bei Dante heißt es …»
    Jury sah verblüfft auf. «Dante? Sie lesen Dante?» Jury öffnete einen weiteren Ordner aus seinem Stoß. «Ich hätte nie gedacht, daß Sie Zeit haben, sich hinzusetzen und ein Buch zu lesen.»
    «Ich habe nicht gesessen. So ein alter Knabe wurde in seiner Bibliothek zusammengeschlagen. Ich habe mir die Bücher angesehen. Er – Dante, meine ich – hält es noch für schlimmer als Mord: den ‹Verrat an Freunden und Wohltätern› nämlich. Schlimmer als Mord, Jury.» Macalvie nahm die Füße vom Schreibtisch und streckte die Hand nach einem Fisherman’s Friend aus.
    Wiggins riß eine Packung auf. «Kriegen Sie eine Erkältung, Sir?»
    «Nein. Ich habe mit dem Rauchen aufgehört.»
    «Gut. Wie lange schon?»
    Macalvie sah auf die Uhr. «Vor ’ner halben Stunde.» Er nahm einen der abgelegten Ordner. «Was ist mit dem hier? Sagt, er war zwischen halb zwölf und Mitternacht an seiner Haustür am Ende der Charles Street.»
    «Das Pub hat um elf zugemacht.»
    «Ja, aber das heißt nicht, daß sie um elf getötet wurde.»
    «Sie hätte aber sicher nicht noch eine Stunde in Hay’s Mews rumgehangen.»
    Macalvie zuckte die Achseln und warf den Ordner wieder auf den Schreibtisch. «So genau kann niemand die Todeszeit bestimmen. Wenn Ihre Pathologin das auch gar nicht zu schätzen wußte, als ich ihr das sagte …»
    Jury fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, so daß sie in Büscheln hochstanden. Er seufzte. «Macalvie, hören Sie bitte auf, durch die Korridore zu schleichen. Lassen Sie bloß die Leute von der Gerichtsmedizin in Ruhe.»
    Macalvie wechselte das Thema. «Dieser Bursche David Marr, der hat doch überhaupt kein Alibi. Die Dienstboten waren weg, und der Anrufbeantworter kann das Gespräch entgegengenommen haben. Die Schwester lügt.»
    «Gelegentlich sagt auch jemand die Wahrheit, Macalvie.»
    Macalvie wirkte nicht überzeugt. Er fuhr mit dem Daumen am Ordnerstapel entlang. «Irgend jemand weiß etwas.» Er schlang die Arme wieder um die Brust.
    «Was ist mit Sheila Broome? Weiß jemand was über sie?»
    «Natürlich.»
    Jury sah ihn an. «In zehn Monaten haben wir nichts zutage gefördert.»
    «Werden wir aber noch.»
    Jury griff nach dem Hörer. «Jury.» Der Anruf kam von Constable Whicker, der am Empfang Dienst tat.
    «Ich hab einen Jungen hier unten, er heißt Colin Rees, sagt, er weiß vielleicht was über den angeblichen Mord in Hay’s Mews, Sir.»
    Jury hätte Whicker auch an der Art seiner Schilderung erkannt. Was Constable Whicker anging, war «Tatsache» ein relativer Begriff, und er gab Informationen stets mit Warnschildern versehen weiter, so als ob Fleet Street eventuell mithören könnte.
    «Schicken Sie jemanden mit ihm rauf, Constable.»
    Constable Whicker ließ den Hörer sinken, und man hörte leises Gemurmel. «Anscheinend will er nicht, Sir.»
    «Okay. Ich komme runter.» Er legte auf und sagte zu Macalvie: «Drunten im Foyer ist ein Knabe wegen des Hay’s-Mews-Mords.»
    Macalvie schob den Hut zurück und lächelte.
     
    Zwei Jungen. Der ältere von ihnen, Colin Rees, elf oder zwölf Jahre alt, mit ausgeblichenem blondem Haar in der Farbe von Malzmilch und kleinen, grauen Kieselsteinaugen. Er hielt eine Mütze in den Händen, die ihm offensichtlich mehrere Nummern zu groß war und die er zusammenquetschte und auseinanderzog, als sei sie ein Ackordeon. Er hatte das magere, angespannte Aussehen eines Kindes, das es gewohnt ist, auf dem Spielplatz gehänselt zu werden.
    «Du bist Colin Rees?»
    «Colly, ja, Sir.»

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