Die Regentin (German Edition)
Prolog
Chelles-sur-Marne, A. D. 664
Das Tor des Klosters war nur zur Hälfte geöffnet, einem Augenlid gleichend, welches sich zögernd über die Pupille hebt. Vorsichtig fielen auch die Bewegungen der grau verschleierten Nonnen aus, die sich hinter dem Eingang drängten. Wiewohl sie dem hohen Besuch mit unverhohlen neugierigen Blicken und aufgeregtem Flüstern entgegenstrebten, wagte keine von ihnen, zu den Gästen zu treten, die eben dem Wagen entstiegen waren.
Es waren zwei Frauen – die eine hochgewachsen, mit langen, rotbraunen Zöpfen, das Gesicht unter dem feinen, seidigen Schleier bereits verblüht, aber noch nicht von einem Runzelnetz gefangen; die andere kaum größer als ein kleines Mädchen, obgleich auch sie der Jugend entwachsen. Ihr Blick aus dunklen, großen Augen war der einer Greisin. Er schien zu viel gesehen zu haben, um je wieder berührt zu werden, weder von den abgründigen Tiefen noch den wilden Höhenflügen des Lebens.
Einige Schritte vom Tor entfernt verharrten die beiden Frauen, als wären sie sich – gleich den unruhigen Nonnen – nicht gewiss, welcher Abfolge sich ihr Tun zu unterwerfen hatte.
Ob dieses Zögerns fasste die Äbtissin Mut, löste sich aus dem Kreis ihrer Schwestern und ging auf die beiden Frauen zu. Den Blick hielt sie gesenkt – als Zeichen ihrer Ehrfurcht, und jene zeigte sie noch deutlicher, als sie vor der groß gewachsenen Frau eine tiefe Verbeugung vollführte.
»Es ist für uns alle eine Ehre, meine Königin, eine überaus große Ehre, dich hier zu empfangen, und...«
Die groß gewachsene Frau schnitt ihre Worte mit einer Handbewegung ab, die heftig ausfiel, jedoch kontrolliert, und so fielen auch sämtliche andere Gesten aus, als sie nun die Äbtissin aufrichtete, noch näher an das Tor heranschritt, schließlich den Kopf hob, wie um die Luft zu erschnuppern.
Von den Wirtschaftsräumen neben dem Refektorium wehte der Geruch von frischem Wildfleisch, denn es war Sonntag heute, und selbst die Tafel eines strengen Klosters war reich gedeckt. Er vermischte sich mit den duftenden Kräutern des Gartens, aber auch mit dem süßlich-beißenden Gestank der Latrinen, der sich, gerade im drückenden Sommer, nie gänzlich verflüchtigte.
Die Lippen der Königin zitterten kaum merklich, wiewohl sie den Anflug des Ekels rasch schluckte. Gar manche Nonne hatte sie in ihrem Leben kennen gelernt, auch Äbtissinnen darunter, die ihre Demut bewiesen, indem sie selbst die Latrinen regelmäßig reinigten und leerten, wie sie sich auch für die Küchenarbeit nicht zu schade waren.
Die jüngere, kleinere Frau war ihr gefolgt, berührte sie sachte am Arm. »Bathildis«, sprach sie ihren Namen anstelle des Titels aus, den all die anderen gebrauchten. »Bathildis... ist dein Entschluss tatsächlich unumstößlich?«
Bathildis’ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das zugleich wehmütig und trotzig war, versonnen und stolz.
Mit gleichem Lächeln hatte sie den Entschluss gefällt, von dem Rigunth, ihre treueste Begleiterin, eben sprach, hatte sie in den letzten Tagen ihr Leben überdacht, das sie nun an diesen Ort hier geführt: ein Leben, das in einem fernen Land als Tochter eines Fürsten begonnen, das sie in den Abgrund der Sklaverei gestoßen und sie schließlich zur höchsten weltlichen Würde erhoben hatte.
»Ja«, sagte sie leise, fast flüsternd. »Ja, ich weiß, was ich tue... Ebroin lässt mir keine andere Wahl.«
Die Äbtissin hielt ausreichend Abstand ein, ungehörig wäre es, den beiden Frauen zu offensichtlich zu lauschen. Freilich war ihr Gesicht angestrengt verzogen, auf dass ihr kein Wort entginge, und auch die Nonnen, immer noch um das Tor geschart, unterließen das Flüstern und hörten aufmerksam zu.
»Noch hast du die Macht umzukehren«, sprach die schwarzäugige Rigunth, »noch bist du die Regentin dieses Landes.«
Bathildis schüttelte den Kopf. Ihr wehmütiges Lächeln wich einem entschlossenen Ausdruck, als sie das Tor durchschritt.
»Nein«, erwiderte sie, »nein, jetzt nicht mehr.«
Erstes Buch
Die Fürstentochter
A.D. 632–647
I. Kapitel
Die Geburt des Kindes war für die Wöchnerin schmerzhaft, für die Mägde ermüdend und für seine Großmutter Acha unendlich langweilig. Beinahe in gleichem Takt, in dem die Gebärende ächzte, verzog sich Achas Mund zu einem Gähnen. Sie war nicht müde, aber sie haderte mit dem Umstand, dass die Geburt Frauensache war und zudem eine äußerst langwierige Angelegenheit, die zu Warten und
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