Internat und ploetzlich Freundinnen
die Rücklichter des Autos nicht mehr sehen kann. Sie vermisst ihre beste Freundin jetzt schon. Auch ihren Vater vermisst sie. Und Manu, Sofie und Jonas. Sogar den Spargel, ihren Sportlehrer, vermisst sie. Und die drei Hundewelpen, die Manu gerettet hat. Ach, irgendwie vermisst sie plötzlich alles und jeden.
„Wieso muss mein Leben eigentlich so kompliziert sein?“, fragt sie den Mond, der tief über dem Garten hängt.
Leider gibt er keine Antwort. Stattdessen ruft ihre Mutter: „Carlotta-Mäuschen, komm bitte rein! Es ist schon spät!“
Carlotta rollt mit den Augen. Wann Mama wohl endlich begreift, dass sie kein kleines Mäuschen mehr ist? Immerhin kommt sie morgen in die sechste Klasse. Die Zeiten, in denen sie auf Mäuschen gehört hat, sind nun wirklich vorbei.
„Komme schon!“, ruft sie zurück und trabt auf das hell erleuchtete Haus zu. Es wäre zu peinlich, wenn Mama sie noch einmal mit ihrem Babynamen rufen würde. Was sollen denn die Nachbarn denken? Dass sie selbst noch einen Babysitter braucht vielleicht?
Sie hüpft die breite Steintreppe hinauf und schließt die Haustür hinter sich. Im Wohnzimmer flimmert der große Flachbildschirm.
Carlotta schnappt sich einen Teller mit Melonen- und Käsespießen, der für sie bereitsteht, gibt ihrer Mutter im Vorbeigehen einen Kuss, winkt Steffen zu und verschwindet in ihrem Zimmer. Sie muss noch ein paar Klamotten in den Koffer werfen und ihre Schulsachen zusammensuchen, die sie zu Beginn der Ferien sonst wohin gepfeffert hat. Morgen fährt Mama sie ins Internat zurück. Die Schule beginnt. Ein neues Schuljahr fängt an. Die sechste Klasse! Carlotta spürt ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, als sie daran denkt.
„Hast du alles? Brauchst du noch etwas? Soll ich noch ein bisschen bleiben? Vergiss nicht, regelmäßig anzurufen, hörst du?“ Caren Prinz-Mohr sieht sich in dem kleinen Internatszimmer um. Es ist gemütlich und zweckmäßig eingerichtet: drei Betten, drei Schränke, drei Schreibtische, ein paar Regale. An den Wänden hängen bunte Bilder, Fotografien von Gummibärchen und Familienmitgliedern und ein paar Poster von Popstars. Vor dem Fenster bauscht sich ein fröhlich geblümter Vorhang im Wind.
Carlottas Mutter wirkt ein bisschen fehl am Platz. Wie immer ist sie modisch gekleidet und perfekt geschminkt. Als sie den Vorhang zur Seite zieht, um einen Blick hinaus in den Schlosspark zu werfen, klimpern die goldenen Armreifen an ihrem Handgelenk.
Carlotta weiß, dass ihre Mutter es eilig hat. Sie hat einen wichtigen Geschäftstermin in der Stadt. Die Zwillinge sind bei ihrer Tagesmutter, Steffen ist bei der Arbeit.
„Alles in Ordnung, Mama“, versichert sie und schiebt ihre Mutter in Richtung Tür. „Du kannst ruhig fahren. Ich hab alles und brauche nichts. Und ich vergess auch bestimmt nicht, dich anzurufen.“
„Wenn du Heimweh bekommst“, sagt ihre Mutter und wendet sich halb zu ihr um, „melde dich im Sekretariat. Es gibt da jetzt diese neue Heimweh-Therapie. Es ist keine Schande, sich dafür anzumelden, Carlotta. Weißt du, als ich so alt war wie du …“
Carlotta würgt den Redefluss ihrer Mutter kurzerhand ab.
„Ich weiß, Mama. Als du so alt warst wie ich, warst du auf jeder Klassenfahrt so krank vor Heimweh, dass Oma und Opa dich vorzeitig nach Hause holen mussten.“ Zum Glück bin ich in dieser Beziehung anscheinend mehr nach Papa geraten, fügt sie im Stillen hinzu. Heimweh? Pah! Sie doch nicht!
„Wo sind eigentlich deine Freundinnen?“ Mama runzelt die Stirn. „Müssten die nicht auch schon längst hier sein?“
Stimmt. Das hat Carlotta sich auch schon gefragt. Die Betten, Schränke und Schreibtische von Manu und Sofie sind noch genauso leer gefegt und aufgeräumt wie am letzten Tag vor den Sommerferien.
Mama schüttelt den Kopf. „So ganz zuverlässig waren die beiden Mädchen ja schon im letzten Schuljahr nicht. Ich verstehe die Eltern nicht. Pünktlichkeit hat auch etwas mit Höflichkeit zu tun.“
Carlotta schiebt ihre Mutter mit Nachdruck in den Flur und macht die Zimmertür hinter sich zu. „Pünktlich zu sein ist bestimmt nicht ganz einfach, wenn man so weit weg wohnt wie die beiden“, sagt sie. „Schließlich lebt Sofie in der Nähe von Brüssel und muss mit dem Zug fahren, weil ihre Eltern sie nicht herbringen können. Und Manu? Die geht wahrscheinlich zu Fuß und trödelt. Oder sie reitet und macht einen Extra-Umweg, um unterwegs noch schnell ein paar bedrohte Tiere zu retten.“ Carlotta kichert.
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