Intruder 6
auch eine maßstabgetreue Kopie des Petersdoms aufbauen, wenn es ihnen Spaß machte.
Gerade, als er sich umdrehen und von seinem Aussichtspos-ten zurücktreten wollte, ging die Tür der Kirche auf, und eine Gestalt trat ins Freie. Mike fuhr erschrocken zusammen, sah genauer hin und wich automatisch ein, zwei Schritte zurück. Es war nicht irgendeine Gestalt. Es war ein alter, gebeugter Mann mit strähnig grau gewordenem Haar, das ihm bis weit über die Schultern herabfiel, rotbrauner Haut und einem zerfurchten Gesicht, in dem das einzig Lebendige die Augen zu sein schienen, erfüllt von etwas, das Gestalt gewordener Hass auf alles Lebende und Atmende war.
Mikes erste Hoffnung zerstob damit wie eine laue Sommer-nacht, die von einem heftigen Gewitter zerrissen wurde.
Das war nicht der Schamane, wie er gehofft hatte, nicht der alte Mann, der ihn im Traum vor dem Wendigo gewarnt hatte mit den Worten: »Er wird dich töten.«
Es war der Wendigo selbst.
Vielleicht war es jetzt so weit. Vielleicht war er gekommen, um endgültig mit Mike abzurechnen - auch wenn nichts an seinem Äußeren daraufhindeutete. Er trug nicht den schwarzen Büffelfellmantel, sondern nur einen ledernen Lendenschurz und einfache Mokassins, und in seinen Händen hielt er keine Waffe, nicht einmal einen Anasazi-Speer.
Kaum war der Wendigo einen Schritt weit aus der Kirche getreten, blieb er stehen und starrte wortlos und voll stummen Hasses in Mikes Richtung.
Mike schloss mit einem leisen Stöhnen die Augen. Hatte er wirklich geglaubt, es wäre so leicht? War er wirklich närrisch genug gewesen, sich allen Ernstes einzureden, dass es ausreichte, eine harmlose Spinne zu zerquetschen, um sich selbst zu besiegen? Wie naiv!
Als er die Augen wieder öffnete, war der Wendigo immer noch da. Er war nicht näher gekommen, aber Mike spürte seinen Blick nun deutlicher, beinahe wie eine Berührung, tief in seinem Innern. Er hörte ein Wispern und versuchte sofort, abzublocken.
»Nein!«, sagte er.
Der Wendigo machte einen einzigen Schritt, der ihn die Hälfte der Distanz zwischen der Kirche und Mikes Versteck überwinden ließ. In seiner rechten Hand lag plötzlich wieder der Speer mit der Feuersteinspitze. Diese grässliche Ausgeburt von Mikes überhitzter Fantasie scherte sich einen Dreck um Logik oder Naturgesetze.
Etwas in Mike wollte sich krümmen und vor Angst schreien, dasselbe Etwas, das ihm mehr als vier Jahrzehnte lang Herzra-sen, Schweißausbrüche und panische Angst beschert hatte, wenn er ein harmloses krabbelndes Etwas mit mehr als sechs Beinen sah. Doch Mike blieb hart. »Nein!«, sagte er noch einmal. »Verschwinde. Du störst im Moment ein bisschen, mein Freund.«
Seine Stimme zitterte vor Angst und verdarb ihm den Effekt, aber wichtig war nicht wie, sondern dass er es sagte. Der Wendigo blieb stehen. Das Wispern in Mikes Gedanken wurde schärfer, drohender. Doch Mike tat etwas, das viel leichter war, als er es sich jemals vorgestellt hätte: Er gestattete seiner Angst nicht, Gewalt über ihn zu erlangen. Er gestattete ihr nicht einmal wirklich, Gestalt anzunehmen. Dieses Ding dort draußen war so wenig echt, wie Bannermann ein echter Polizist oder Strong jemals wirklich tot gewesen waren. Eine weitere Lüge, nur dass sie diesmal vom raffiniertesten seiner Feinde ersonnen worden war, von ihm selbst. Er wusste, dass er den Wendigo nicht einfach wegleugnen konnte. Das hatte er versucht und ihn damit immer nur noch stärker gemacht.
»Nein!«, sagte er noch einmal. »Nicht jetzt!«
Die Gestalt draußen auf der Straße begann zu flackern, und schließlich trieb sie einfach auseinander wie ein Trugbild aus Rauch, das der Wind verwehte. Der Wendigo verschwand nicht völlig, jedenfalls nicht gleich.
Etwas von ihm blieb, etwas Unsichtbares und Drohendes, das Mike ein düsteres Versprechen zuflüsterte.
Mike lachte. Zuerst leise und nervös, ein Lachen, das keinen anderen Zweck hatte, als ihm Mut einzuflößen - oder zumindest vorzutäuschen. Aber nach ein paar Augenblicken wurde dieses Lachen echt, lauter und immer lauter, bis Mike sich schließlich mit Gewalt zusammenriss, weil er fürchtete, man könnte es drüben in Bannermanns Gefängnis hören. Der zweite und vielleicht wichtigste Sieg an diesem Morgen. Er bestimmte vielleicht nicht die Regeln in diesem verfluchten Spiel, aber er hatte sie - endlich - verstanden. Was sollte ihn jetzt noch aufhalten?
*
Am Ende war die Zeit doch schneller vergangen, als er erwartet hatte. Er hatte
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