Irgendwann werden wir uns alles erzählen
ohne Gebet, überhaupt oft ohne zu sprechen.
Unser Haus ist rotbraun gestrichen und hat einen dahinterliegenden, von der Gasse aus nicht sichtbaren, großen Garten. Zwei Kirschbäume gibt es darin, einen Apfel- und einen Birnbaum, einige Johannisbeerbüsche, Himbeergesträuch und Erdbeerbeete, einige Reihen Salat, Karotten, Zwiebeln und Kartoffeln und Kräuterbeete mit Petersilie, Schnittlauch und Dill, einen Hasen- und einen Hühnerstall.
Meine Mutter sitzt im Garten, als ich komme, unter dem Apfelbaum, in einem Liegestuhl mit einem Buch in der Hand. Furchtbar dünn ist sie geworden. Ihre mageren Beine staksen unter dem Kleid hervor und beschämen mich. Sie ist die Einzige hier, die Bücher besitzt. Effi Briest und Anna Karenina sind nach wie vor die ungeschlagenen Favoriten. Auch ich habe herrliche Stunden mit ihnen verbracht und viel geträumt, viel mitgelitten.
Der Oma Traudel war das alles gar nicht recht – sie liest ja nur die Zeitung –, doch mit der Zeit gewöhnte sie sich daran. Die Lust am Lesen hat meine Mutter von ihren Eltern, der Sigrun und dem Hanno. Sigrun entstammte dem Hamburger Bürgertum; doch zwei Jahre nach dem Krieg, da war sie achtzehn, verliebte sie sich in den Hanno Breede, und der war Kommunist. Sie folgte ihm in den Norden der Sowjetischen Besatzungszone. Dort, im Heideland, fanden sie ein Haus und ließen sich nieder. Für Sigruns Familie war das ein ziemlicher Schlag, und richtig gemocht haben sie den Hanno nie. Sigrun und Hanno bekamen fünf Kinder: Ernst, Wilhelm, Hannah, Torben und Walther. Meine Mutter war also das mittlere Kind und das einzige Mädchen. Den ersten und den letzten Sohn verloren sie wieder. Ernst starb gleich nach der Geburt, und Walther stürzte mit vier Jahren aus einem Fenster des Hauses. Es war eigentlich nicht hoch gewesen, gerade mal drei Meter fünfzig, aber er war gleich tot. Hanno arbeitete als Redakteur bei der Zeitung in der nächsten Stadt, später stand er der Verwaltung der örtlichen LPG vor.
»Kommst du endlich einmal?«, sagt sie jetzt und steht auf. »Erzähl mal, wie ist es bei den Brendels, und wie geht es dir?« Sie legt ihren Kopf schief auf die linke Seite. »Gehst du auch zur Schule? Du hast deine Physik- und Mathebücher gar nicht geholt.« Ich versuche gar nicht erst zu lügen, will sie jedoch auch nicht mehr als notwendig erschrecken und antworte: »Es geht mir gut bei den Brendels, sie haben mich wie eine Tochter aufgenommen … aber zur Schule gehe ich nicht so oft … sie sehen das aber auch nicht gern.« Sie schaut mich an, bittend, wartend, und ich sage: »Ich weiß nicht, Mama … vielleicht mache ich kein Abitur, vielleicht suche ich lieber einen Ausbildungsplatz oder helfe auf dem Hof. Ich weiß es noch nicht. Ich glaube, ich schaffe die Schule nicht.«
Betroffen schaut sie mich an. In mir liegt ihre Hoffnung, ich kann sie nicht erfüllen. »Ach«, sagt sie nur und nach einer langen Pause: »Dann müssen wir jetzt Bewerbungen schreiben. Das neue Lehrjahr beginnt im September, das ist nicht mehr lang hin.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe erwartet, sie würde toben und mich zwingen, weiter zur Schule zu gehen. Eigentlich hätte es mich sogar gefreut. Sie ist doch die Mutter. Und ich das Kind.
Doch sie schweigt, und ich sage matt: »Hast du etwas von Papa gehört?«
»Jaha!«, sagt sie, und der Ton ihrer Stimme schwingt beim zweiten »a« nach oben, »er wird wieder heiraten.«
»Was? Wen denn?«, frage ich, entsetzt und gleichzeitig froh darüber, ein anderes Thema zu haben, etwas, das ablenkt von mir.
»Sie heißt Nastja und kommt aus Leningrad. Aber leben werden sie hier in der Nähe. Ich glaube, sie ist auch schon schwanger.« Ich spüre mich bis in die Fingerspitzen. »Sie ist übrigens neunzehn«, fügt meine Mutter hinzu und presst die Lippen aufeinander.
»Dann werden wir vielleicht Freundinnen«, erwidere ich betont ungerührt. Doch sie scheint mich nicht gehört zu haben. Ihre Haare hat sie abgeschnitten, und müde sieht sie aus. Vorige Woche ist die Fabrik geschlossen worden, in der sie fast zehn Jahre als Bürokraft gearbeitet hat. Aber warum man sich da die Haare abschneiden muss, verstehe ich nicht. Sie hatte so schönes Haar, sehr dick und leicht gewellt, viel schöner als mein eigenes.
»Wir müssen uns einmal ernsthaft unterhalten, Maria«, sagt sie nun doch ziemlich bedeutungsvoll, obwohl ihre dünne Stimme etwas anderes ankündigt. »Du weißt, ich habe keine Arbeit mehr und auch noch
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