Irgendwann werden wir uns alles erzählen
über Santorin. Jetzt, wo man doch überall hinfahren könne, müsse man unbedingt einmal nach Griechenland fahren, oder besser noch fliegen. Ja, das hätte der Bube tun sollen. Doch Johannes hat andere Pläne. Oben auf dem Boden gibt es eine leere Kammer ohne Fenster. In dieser Kammer hat Johannes ein Geheimnis. Gleich, hat er gesagt, wird er es mir zeigen.
Wir beeilen uns mit dem Kuchen, verschlingen schnell ein zweites Stück und gehen schließlich hinauf. Eine solche Aufregung. Zuerst sehe ich gar nichts, es ist stockdunkel in der Kammer, unerträglich heiß, und es riecht nach irgendeiner Chemikalie. Johannes führt mich zu einem Stuhl; dann macht er Licht.
An der Wand vor mir ist eine Arbeitsplatte angebracht. Darauf stehen ein rätselhaftes großes Gerät und mehrere flache Plastikbehälter mit Flüssigkeiten darin, außerdem Flaschen mit den Aufschriften Entwickler und Fixierer und einige Boxen Fotopapier. Darüber ist eine Wäscheleine mit Klammern gespannt; es hängen Bilder daran, und auf allen Bildern bin ich: schlafend morgens im Bett, nackt beim Zähneputzen, lesend über die Karamasows gebeugt, im Garten in der Sonne liegend, am alten Schuppen am Wehr lehnend – nackt, mit geflochtenem Zopf. Johannes lächelt und sagt: »Ich weiß jetzt, was ich will, ich werde Kunst studieren, wir gehen weg von hier.« Er sieht mich durchdringend an. »Der Vater will, dass ich den Hof übernehme, jetzt, wo uns das Land wieder gehören kann, das könnte sich wieder richtig lohnen, sagt er, aber ich muss weg von hier.« Mir steigen die Dämpfe in den Kopf, ich weiß nicht, was ich sagen soll, er sieht glücklich aus. Aber ich? Ich bin doch gerade erst angekommen. Er redet weiter und weiter, wo er doch sonst nicht viel sagt: »Weißt du, ich hätte es auch wie der Hartmut gemacht, ich hätte auch einen Ausreiseantrag gestellt, und ich hätte niemandem was gesagt, genau wie der Hartmut. Aber jetzt können wir hin, wohin wir eben wollen, wir können machen, was wir wollen.« Seine rechte Hand schwingt bedeutungsvoll durch die Luft. »Du hättest doch nicht einmal studieren können, Maria«, fährt er fort, »du hast ja nicht mal die Jugendweihe. Na ja, aber die Schule musst du schon noch beenden, so lange warten wir eben, für dieses Semester ist es eh zu spät für mich. Ich arbeite noch ein bisschen beim Vater, und dann sind wir weg.« Seine Augen sind ganz weit vor Glück und Aussicht. Da kommt mir der Henner in den Sinn, und ich fühle die Stelle an meiner Brust. Brennend. Johannes kniet vor mir auf dem Boden und legt seinen Kopf in meinen Schoß. »Ach, Maria …«, sagt er, »wir werden ganz anders leben, als wir gedacht haben.« Erst jetzt sehe ich die Bilder an der Wand. Fünf Stück, in kleinen schwarzen Rahmen. Fünf Kinder. Drei Mädchen, zwei Jungen, liegend, mit geschlossenen Augen. Denn sie sind alle tot.
Kapitel 5
IN HAUS UND Hof herrscht ein aufgeregtes Treiben. Die dritte Juliwoche beginnt. Besuch steht an. Frieda ist nicht ansprechbar, die Küche im Gegensatz zur sonstigen Ordnung ein Chaos. Es wird gebacken, gekocht, geputzt. Das ganze Dorf weiß es schon: Morgen kommen die Westler!
Ich stehe mit der Frieda über einen Berg Hefeteig gebeugt; sie zeigt mir, wie er sich anfühlen muss, damit er richtig ist: wie eine weiche Frauenbrust. Zum Vergleich befühle ich erst meine Brüste und dann den Teig; die Frieda lacht laut heraus. Eine gewisse Ähnlichkeit in der Konsistenz ist nicht zu leugnen. Es wird Hefeguglhupf geben, Obstkuchen aus sechsfachem Eischwerteig – den kann ich nun schon im Schlaf –, zum Mittag Gemüsesuppe mit Grießnockerln als Vorspeise, Rinderbraten mit Thüringer Klößen und Rotkohl zum Hauptgang und eine Eierschaumcreme mit echter Vanille zum Nachtisch. Die echte Vanille verdanken wir dem Henner, der gestern drüben im Westen war und einige Geschenke mitgebracht hat, weil die Marianne immer großzügig mit ihm gewesen ist. Wenn es ihm schlecht ging, hat sie ihm manchmal etwas geschenkt, ein Huhn, ein paar Zwiebeln und Gemüse. Er steht also ordentlich in ihrer Schuld. Mir hat er auch etwas mitgebracht: eine Tüte Karamellbonbons und eine Schmetterlingshaarspange mit rubinroten Steinen besetzt. Dafür habe ich mir einen misstrauischen Blick von der Marianne eingefangen. Dem Henner ginge es wirklich besser, sagen sie. Es könnte sein, so hofft es auch der Siegfried, dass ihnen das Land zurückgegeben wird, das ihren Eltern einst gehörte. Noch weiß niemand etwas Genaues. In
Weitere Kostenlose Bücher