Irgendwo da draußen - Kriminalroman
gehabt. Ich hatte ja keine Ahnung, dass da noch mehr war … Eines Abends, ich war fünfzehn oder sechzehn, bin ich früher als angekündigt nach Hause gekommen. Ich hörte Geräusche aus dem Zimmer meiner Schwester und habe angeklopft. Dann kam mein Vater heraus. Er hatte ein rotes Gesicht und wirkte irgendwie anders als sonst. Corinna lag in ihrem Bett, mit dem Gesicht zur Wand. Ich habe sie gefragt, ob es ihr gut gehe, aber sie blieb einfach stumm.«
Die Sätze wurden klarer und lauter. Nachdem der Bann gebrochen war, sprudelte es aus ihr heraus: »Ja, Sie haben recht. Mein Vater war hier und hat mir alles gestanden. Zuerst habe ich gar nicht begriffen, was er mir sagen wollte. Und ich verstehe immer noch nicht, wieso ich damals nicht die richtigen Schlüsse gezogen habe. Es geschah im Zimmer nebenan, mein Vater und meine Schwester hatten …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht daran gedacht, weil ich es nicht denken wollte. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass so etwas tatsächlich passiert, in meiner Familie. Und meine Mutter hat sich ebenfalls taub und dumm gestellt. Ich glaube, meinem Vater ist erst durch den Tod von Corinna richtig klar geworden, was er getan hat.«
Sie verstummte.
»Werden Sie etwas gegen ihn unternehmen?«, fragte ich.
»Was erwarten Sie von mir, Herr Wilsberg? Er ist mein Vater. Und ein gebrochener, alter Mann. Obwohl ich kein Mitleid für ihn empfinde. Auch nicht für meine Mutter. Ich will beide nicht mehr sehen. Ich habe Kinder. Allein die Vorstellung, dass er mit ihnen spielt …« Sie schaute mich an. »Und Sie? Werden Sie ihn anzeigen?«
»Das Opfer ist tot, und die Taten sind vermutlich verjährt. Ganz abgesehen davon, dass sie wahrscheinlich nicht mehr zu beweisen sind. Nein, Frau Lahrmann-Tiemen, der Fall ist für mich abgeschlossen.«
Auf dem Rückweg zum Bahnhof überlegte ich, was ich empfand. Genugtuung war es nicht. Eher Leere und Müdigkeit. Manche Fälle sind so. Selbst wenn man sie löst, bleiben sie ein Gräuel.
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