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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Gras.
    Niemand würde hier eine Mauer umzustürzen versuchen oder einem verlassenen Haus Holz (das hier sehr kostbar ist) entnehmen (bei uns nennt man das ausschlachten; hier schlachtet niemand aus); und nicht einmal die Kinder, die abends das Vieh von der Weide oberhalb des verlassenen Dorfes heimtreiben , nicht einmal die Kinder versuchen, Mauern oder Hauseingänge einzustürzen; unsere Kinder, als wir plötzlich mitten im Dorf waren, versuchten es gleich: dem Erdboden gleichmachen. Hier machte niemand etwas dem Erdboden gleich, und man läßt die weicheren Teile verlassener Wohnstätten dem Wind, dem Regen, der Sonne und der Zeit zur Nahrung, und nach sechzig, siebzig oder hundert Jahren bleiben dann wieder Rohbauten übrig, auf die niemals wieder ein Zimmermann seinen Kranz zum Richtfest stecken wird: so sieht also eine menschliche Siedlung aus, die man nach dem Tode in Frieden gelassen hat.
    Immer noch beklommen, gingen wir zwischen den kahlen Giebeln über die Hauptstraße, drangen in Nebengassen ein, und langsam wich die Beklommenheit: Gras wuchs auf den Straßen, Moos hatte sich über Mauern und Kartoffeläcker gezogen, kroch an den Häusern hoch, und die Steine der Giebel, von Mörtel freigewaschen , waren weder Bruch- noch Ziegelsteine, sondern Geröllbrocken, so wie der Berg sie in seinen Bächen zu Tal gerollt hatte, Felsplatten die Stürze über Türen und Fenstern, breit wie Schulterknochen die beiden Steinplatten, die aus der Wand herausragten, dort, wo der Kamin gewesen war: an ihnen hatte einmal die Kette für den eisernen Kochtopf gehangen: blasse Kartoffeln wurden in bräunlichem Wasser gar.
    Wir gingen von Haus zu Haus wie Hausierer, und immer wieder fiel, wenn der kurze Schatten an der Schwelle über uns hinweggestürzt war, immer wieder fiel das blaue Viereck des Himmels über uns; größer war’s bei den Häusern, in denen einmal Wohlhabendere gewohnt hatten, kleiner bei den Armen: nur die Größe des blauen Himmelvierecks unterschied sie hier noch einmal voneinander. In manchen Stuben wuchs schon das Moos, manche Schwellen waren schon von bräunlichem Wasser verdeckt; in den Stirnwänden waren hier und da noch die Pflöcke fürs Vieh zu sehen; Schenkelknochen von Ochsen, an denen die Kette befestigt gewesen war.
    »Hier stand der Herd« — »Dort das Bett« — »Hier über dem Kamin hing das Kruzifix« — »Da ein Wandschrank«: zwei aufrechte und in diese eingekeilt zwei waagerechte Steinplatten, und in diesem Wandschrank entdeckte eins der Kinder den Eisenkeil, der, als wir ihn herauszogen, wie Zunder in der Hand zerbröckelte: es blieb ein härterer Kernstab von der Dicke eines Nagels übrig, den ich — auf Weisung der Kinder — als Andenken in die Manteltasche steckte.
    Wir verbrachten fünf Stunden in diesem Dorf, und die Zeit verging schnell, weil nichts geschah: nur ein paar Vögel scheuchten wir hoch, ein Schaf floh vor uns durch eine leere Fensterhöhle den Hang hinauf; in verknöcherten Fuchsienhecken hingen blutige Blüten, an verblühten Ginsterbüschen hing ein Gelb wie von schmutzigen Groschen, blanker Quarz wuchs wie Gebein aus dem Moos heraus; kein Schmutz auf den Straßen, kein Unrat in den Bächen und kein Laut zu hören. Vielleicht warteten wir nur auf das Mädchen mit dem roten Pullover und der Kiepe voll braunen Torfs, aber das Mädchen kam nicht wieder.
    Als ich auf dem Heimweg in die Tasche griff, um nach dem Eisenkeil zu sehen, hatte ich nur braunen, rötlich durchmischten Staub in der Hand: er hatte dieselbe Farbe wie das Moor rechts und links von unserm Weg, und ich warf ihn dazu.
    Niemand wußte genau zu berichten, wann und warum das Dorf verlassen worden war: es gibt so viele verlassene Häuser in Irland, auf einem beliebigen zweistündigen Spaziergang kann man sie aufzählen: das wurde vor zehn, dieses vor zwanzig, das vor fünfzig oder achtzig Jahren verlassen, und es gibt Häuser, an denen die Nägel, mit denen man die Bretter vor Fenster und Türen genagelt hat, noch nicht durchgerostet sind, Regen und Wind noch nicht eindringen können.
    Die alte Frau, die im Haus neben uns wohnte, wußte uns nicht zu sagen, wann das Dorf verlassen worden war: als sie ein kleines Mädchen war, um 1880, war es schon verlassen. Von ihren sechs Kindern sind nur zwei in Irland geblieben: zwei wohnen und arbeiten in Manchester, zwei in den Vereinigten Staaten, eine Tochter ist hier im Dorf verheiratet (sechs Kinder hat diese Tochter, von denen wohl wieder zwei nach England,

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