Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
matriarchalisches Paradies, patriarchalische Hölle.
Als Urheber der Matriarchatstheorie gilt allerdings ein Mann: Johann Jakob Bachofen. Der Baseler Jurist, überaus produktive Altertumsforscher und wohlhabende Privatgelehrte veröffentlichte 1861 eine umfängliche Schrift mit dem Titel Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur . Bachofen war zwar ein ausgesprochen eigenwilliger Denker, aber keinesfalls progressiv, sondern sogar unverhohlen chauvinistisch: Er machte unmissverständlich klar, dass er die Entwicklung vom Mutter- zum Vater-Prinzip als Fortschritt zum Besseren ansah. Von der hetärischen Phase lästerlicher Unzucht und der amazonischen Phase des Kriegs gegen die Männer fand die Frau ihre Bestimmung als Mutter in der beginnenden Ackerbauphase der Menschheit.
Die Entstehung der Idee vom Matriarchat entstand zu einer Zeit, als mit Charles Darwins Forschungen und Funden prähistorischer Menschheitszeugnisse die alte biblische Chronologie von 6000 Jahren Menschheitsgeschichte vollends unhaltbar geworden war und sich neue Zeiträume der Vergangenheit ergaben, die der Füllung harrten. Zu einer Zeit außerdem, in der die Geschlechter- und Familienordnung streng patriarchalisch ausgerichtet war, prägnant mit dem Philosophen Feuerbach ausgedrückt: »Der Mann ist der Kopf, das Weib der Bauch der Menschheit.« Vordergründig war dieses Modell noch intakt, tatsächlich aber begann es allmählich aufzubrechen. Nicht nur die sich beschleunigende Industrialisierung, Verstädterung und Modernisierung zeigte Wirkung, die Frauen begannen, sich ihrer Beschränkungen bewusst zu werden und sie zu hinterfragen. Und mochte Bachofen sein Buch auch nicht als Munition der frühen Frauenbewegung verstanden haben, so diente seine Theorie über die Urgesellschaft gleichwohl alsbald eben diesem Zweck. Zahlreiche Schriftsteller und Schriftstellerinnen, berühmt und unbekannt, bezogen sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Bachofen, darunter berühmte Männer wie Thomas Mann, Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin. 1931 erschien die Abhandlung Weltgeschichte der Steinzeit des österreichischen Vorgeschichtlers Oswald Menghin, der sich zur Matriarchatstheorie ebenso bekannte wie zur Kulturkreistheorie und zur Notwendigkeit spekulativer Methoden zum Erkenntnisgewinn. Zur Attraktivität der Theorie trugen neben völkischen allerlei pantheistische oder mystische Lehren bei, wie sie damals Konjunktur hatten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr die Mutterrechtstheorie in der zweiten Frauenbewegung eine kraftvolle Renaissance, weil damit dem Alltagskampf gegen die Macht der Männer gleichzeitig eine historische Tiefenschärfe und eine Zukunftsvision zur Seite gestellt wurden – ein wichtiges identitätsstiftendes Moment der Bewegung. Attraktiv erwies sich die Lehre vom vorzeitlichen Matriarchat auch für den esoterischen oder spirituellen New-Age-Feminismus des späteren 20. Jahrhunderts sowie für die Autorinnen prähistorischer Romane, die der matriarchalen Kultur eine Bühne bauten und die These enorm popularisierten – und daran mitunter gut verdienten. Schließlich erhielt die Theorie sozusagen wissenschaftliche Weihen, als Marija Gimbutas, eine US-amerikanische Archäologin und Anthropologin litauischer Herkunft, in mehreren Büchern ein friedlich-feminines prähistorisches Europa beschrieb, das der Großen Göttin huldigte, bis das Patriarchat die Idylle zerstörte. Sie war nicht die einzige Wissenschaftlerin, die sich nach 1945 des Themas Matriarchat annahm, aber eine seiner entschiedensten Fürsprecherinnen.
Verschiedene Aspekte haben die Herausbildung der Matriarchatstheorie begünstigt, vor allem Zeitgeistströmungen unterschiedlicher Art. Aber natürlich konnte die Theorie eines geschichtlichen Phänomens nicht ohne jede Belege im luftleeren Raum erblühen. Glücklicherweise fanden sich archäologische Hinweise, die sie zu stützen schienen, sowie Wissenschaftler, die darin sekundierten. Dabei geht es vor allem um prähistorische Fruchtbarkeitskulte, stark sexualisierte Frauendarstellungen und Zeugnisse der Megalithkultur im mediterranen Raum und im Nahen Osten, die in diesem Sinne ausgelegt werden konnten. Einen Beweis für die Existenz eines vorzeitlichen Matriarchats haben Prähistoriker zwar nie erbringen können, aber wer die These vertreten wollte, profitierte davon, dass archäologische Funde, also materielle Überreste
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