1275 - Der Totenkopf-Sammler
Der Tag lag in den letzten Zügen. Es war eine besondere Stille eingekehrt, die sich hier, am Rande des Friedhofs noch mehr verdichtet hatte und auch einen bestimmten Geruch bewahrte, den die Natur ausströmte, die sich nach einem heißen Tag von einem abendlichen Regenguss erholt hatte.
An einigen Stellen hatte sich die Feuchtigkeit gesammelt und war zu winzigen Wassertropfen geworden, die als Dunstdecke über dem Boden schwebten und den Büschen und Hecken weißgraue Bärte gaben.
Der Ankömmling war zufrieden, als er vor der Tür stehen blieb. Hätte jemand von der anderen Seite her durch das Fenster geschaut, er hätte eine dunkle und zugleich düster wirkende Gestalt gesehen, die über ihren Körper einen langen Mantel gestreift hatte.
Der Mann trug einen Hut mit breiter Krempe, die einen Schatten auf seinem Gesicht hinterließ. Viel war von ihm nicht zu erkennen, der Rest wirkte wie erstarrter Beton.
Trotz des Fensters sah der Mann nichts. Das wollte er auch nicht. Er war gekommen, um eine bestimmte Aufgabe zu erledigen, und davon würde ihn niemand abhalten.
Er glaubte nicht, dass man vergessen hatte, das Licht auszuschalten, und so musste er davon ausgehen, dass sich noch jemand im Innern des Anbaus aufhielt.
Er hob den rechten Arm an und streckte dabei seine Hand vor, die aus dem Ausschnitt des Ärmels glitt. Lange, knochige und auch bleiche Finger waren zu sehen, zur Faust gekrümmt, wobei der mittlere Finger vorstand, und mit ihm klopfte der Mann gegen die Tür.
Er tat es nicht leise, sondern hart und fordernd. Das Geräusch sollte gehört werden. Er wollte zeigen, dass jemand unbedingt Einlass begehrte. Und sollte die Person eingeschlafen sein, würde sie durch dieses Geräusch geweckt werden.
Der Ankömmling wartete. Er fasste sich in Geduld. Er war jemand, der warten konnte, denn manchmal konnte auch der Tod warten, und er sah sich als Tod an. Er War nicht der Sensenmann, er war nicht das Skelett mit dem Stundenglas, aber er war trotzdem der Tod. Nur sah er völlig anders aus, und er liebte es, den Tod zu spielen, um die entsprechenden Botschaften übermitteln zu können.
Sein Klopfen zeigte Erfolg. Jemand machte sich auf den Weg, um die Tür zu öffnen. Er sah den Schatten durch die Scheibe des Fensters. Er bewegte sich direkt auf die Tür zu, und die dunkel gekleidete Gestalt konnte ein scharfes Grinsen nicht vermeiden. Bisher lief alles nach Plan.
Ob die Scheibe auch von innen undurchsichtig war, wusste er nicht. Aber er hörte eine krächzende Stimme und stellte sich den Sprecher als einen alten Mann vor, der sich hier bei den aufgebahrten Leichen die Zeit vertrieb, Rätsel löste, Kaffee trank oder auch Radio hörte.
»Wer ist da?«
»Entschuldigung, aber ich möchte noch von einem Verwandten Abschied nehmen.«
»Bitte?«
»Einen Toten sehen«, erklärte der Mann vor der Tür und zeigte ein hölzernes Grinsen.
»Sie kommen verdammt spät.«
»Das weiß ich.«
»Eigentlich ist die Besuchszeit zum Abschied nehmen von Verstorbenen vorbei.«
»Das ist mir klar, aber ich bin von weither gekommen und in einen Stau geraten. Sie wissen ja, wie das ist. Man kann heute als Autofahrer nie eine konkrete Zeit angeben.«
»Ja, ja, das kenne ich.«
»Dann werden Sie doch bitte eine Ausnahme machen können.«
Der andere Mann überlegte. Als der Ankömmling schon etwas sagen wollte, hörte er die Frage.
»Wen wollen Sie sich denn noch um diese Zeit anschauen?«
»Professor Harald Wimmer!«
»Ach, den?«
»Ist das schlimm?«
»Nein, nein. Er ist im Moment meine berühmteste Leiche. Sind Sie ein Student oder ein Assistent?«
»Keines von beiden. Ich bin der Cousin.«
»Okay, dann werde ich öffnen.«
Boris Kelo war zufrieden. Er lächelte. Er strich über die Hutkrempe und lauschte den leisen Geräuschen, die entstanden, als sich der Schlüssel von innen im Schloss drehte.
Kelo atmete auf. Die Bahn war frei, und er schaute zu, wie sich die Tür langsam öffnete. Der andere Mann steckte noch voller Misstrauen, was völlig normal war, denn nicht an jedem Abend bekamen die Toten in der Halle noch Besuch.
Kelo hatte richtig getippt. Der Wärter war schon älter. Weit über die sechzig. Ein Gesicht mit zerfurchter Haut, kurze graue Haare, die nur an den Seiten wuchsen, zwei misstrauisch blickende Augen, die sich jetzt vor Schreck weit öffneten, als er die Gestalt sah, deren Anblick nicht jedem gefallen konnte.
Wer viel Fantasie besaß, der stellte sich so einen Todesboten aus der Unterwelt
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