Isch geh Schulhof: Erfahrung
ich, setze ein, wie ich hoffe, ermutigendes Lächeln auf, schüttele innerlich jedoch verzweifelt den Kopf. »Will jemand weiterlesen? Ja, bitte, Shanice.«
»Wir sollen alle unsere Mathehefte bei dir abgeben«, sagt sie stolz.
Na gut, stimmt wenigstens sinngemäß. Ich atme einmal durch und überlege kurz, ob ich noch einmal erklären soll, dass Lehrer in der Sie-Form angesprochen werden, aber nach Mülla-Möller, Einmaleins und Vorleseübung wird das jetzt wohl zu viel. Lieber konzentriere ich mich auf das, wofür ich hier bin: Mathematik. Mit der PISA -Studie im Hinterkopf, die unserem Schulsystem vor allem im Bereich der praktischen Anwendung des Gelernten unterirdische Leistungen bescheinigt, schlage ich im Buch das Kapitel Längen und Größen auf und beginne mit einer einfachen Frage.
»Bei der ersten Aufgabe sollt ihr schätzen: Wie hoch ist diese Tür ungefähr?«
Ich stelle mich in den Rahmen der Klassentür und zeige auf den oberen Rand.
»Zwei Zentimeter, zwei Meter oder zweihundert Meter?«
Mal wieder blicke ich in ratlose Gesichter.
»Na gut«, beginne ich, »dann gehen wir die Antworten mal durch. Ist diese Tür zwei Zentimeter hoch?«
»Nein, Herr Mülla«, meldet sich ein Junge namens Ümit ungefragt zu Wort, »nischmal ein Maus er konnte einem Tür gehen der zwei Zentimeter hoch ist!«
Die Klasse ist mit diesem besonderen Sprachstil offensichtlich gut vertraut, denn die Kids biegen sich vor Lachen. Ich bemühe die Klangschale und warte darauf, dass Ruhe einkehrt. Fehlanzeige. Noch ein Schlag, immer noch keine Ruhe. Die Schüler sind von der Idee einer winzigen Mäusetür derart entzückt, dass niemand auf die Glocke hört.
»Ruhe!«, rufe ich laut.
Das scheint zu wirken.
»Zwei Zentimeter sind es also nicht«, sage ich in die entstandene Stille hinein. »Wisst ihr, wie lang ein Meter ist?«
Die Kids nicken und erklären mir, dass ein großer Schritt eines Erwachsenen ungefähr so lang ist.
»Und wie hoch ist diese Tür dann ungefähr in Schritten gemessen: zwei Zentimeter, zwei Meter oder zweihundert Meter? Vincent?«
Als Vincent seinen Namen hört, fährt er zusammen und setzt einen Gesichtsausdruck auf, als sei er gerade aus dem Bett gefallen.
»Zwei Zentimeter?«
Ich schließe kurz die Augen und überlege, ob ich schreiend aus dem Raum rennen soll.
»Jemand anders? Fatima?«
»Zwei Meter!«
»Sehr gut, danke!« Endlich erlöst.
Mein Blick ruht einen Augenblick auf Fatima, die sich über das Lob zu freuen scheint. An ihrem Namen, vor allem aber an der Kopfbedeckung erkenne ich ihren Migrationshintergrund. Ihr Kinderkopftuch ist nicht aufwendig mit Nadeln gesteckt, sondern mit einem Gummizug befestigt. Beim Anblick der verhüllten Viertklässlerin frage ich mich einmal mehr, was ich von dieser Kopfbedeckung halten soll.
Einerseits gehört es natürlich zu den Grundrechten eines jeden Menschen, die Wahl der Kleidung selbst zu treffen. Ein einfaches Kopftuchverbot käme in meinen Augen einer Bevormundung gleich, die mit meinen Vorstellungen von persönlicher Freiheit nicht zu vereinbaren ist. Angesichts der Rolle, die Frauen in islamisch geprägten Gesellschaften oft einnehmen, erscheint mir die Verhüllung jedoch als klares politisches Symbol der Unterdrückung – und das kann ich unmöglich gutheißen.
Menschen, die das Tuch befürworten, werden jetzt vielleicht dagegenhalten, dass sich Kopftuchträgerinnen dieses Kleidungsstück als religiöses Symbol freiwillig auferlegen. Aber selbst wenn sie nicht mit körperlicher Gewalt dazu gezwungen werden, sondern wenn Mädchen von Geburt an lernen, dass Männer und Jungs ihnen überlegen sind, dass sie Eigentum ihres Vaters und später ihres Ehemannes sind und nur diesen ihre Haare zeigen dürfen – ist es dann verwunderlich, wenn sie später behaupten, sie würden sich ihrem Mann gern unterordnen und auch das Kopftuch mit Stolz tragen? Vor diesem Hintergrund scheint mir der Begriff freiwillig ziemlich deplatziert.
Als die Stunde zu Ende ist, verlassen die Kids brüllend die Klasse. Einen Moment lang sitze ich wie benommen am Lehrertisch. Ich bin, gelinde gesagt, geschockt. Die meisten der Kids beherrschen weder das Einmaleins noch sind sie in der Lage, einfache Rechenoperationen im Kopf durchzuführen. Das Verständnis für Längenmaße ist bei kaum einem Kind vorhanden. Ich habe sogar festgestellt, dass sie simple Verhältnisangaben wie größer, kleiner, über, hinter, mehr oder weniger ständig durcheinanderbringen. Die
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