Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
Die besten Entdeckungsreisen macht man, indem man die Welt mit anderen Augen betrachtet.
Marcel Proust
P ROLOG Evidenz
oder warum ich im Leben nichts gelernt habe
»Um Gottes willen, Herr Werner, das ist doch illusorisch. Das kann doch gar nicht funktionieren!« Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft im Leben ich diesen Satz gehört habe. Von Freunden, von Kollegen, in der Duz-Variante von Eltern und anderen Verwandten. Sie alle meinten es nur gut. Sie hatten schon ihre Erfahrungen gemacht und wollten mir Schlimmes ersparen.
Die meisten Menschen meinen, wir handelten aus Erfahrung. Aber das stimmt nicht immer. Wenn wir etwas Bestimmtes tun wollen, wird uns oftmals von guten Freunden sogar die Erfahrung als Gegenargument vorgehalten.
»Denk doch dran«, mahnen sie besorgt, »du wolltest doch nie wieder …«, und dann folgt irgendeine der schlechten Erfahrungen, die man gemacht und über die man sich bei den guten Freunden ausgeweint hat. Stimmt, man wollte nie wieder ein Fahrrad mit einem wackligen Gepäckträger fahren. Ja, man hatte sich in der letzten Wohnung oft darüber beklagt, dass der Weg zum Supermarkt so weit sei. Und genau, man wollte keine Beziehung mehr mit einem Menschen beginnen, mit dem man nicht auch über berufliche Probleme reden kann. Richtig, richtig, richtig. Aber ganz gleich, wie sehr andere dagegen reden, für einen selbst stimmt es trotzdem.
Sie werden das kennen: Diesen Moment, in dem man weiß, dass etwas richtig ist. Dass etwas stimmt. Vielleicht sind Sie gerade auf Wohnungssuche. Sie haben schon unzählige Wohnungen besichtigt, aber plötzlich stehen Sie in einer Wohnung und denken: »Die ist es! Hier will ich wohnen!« Oder Sie möchten sich ein neues Fahrrad kaufen, sind schon dieses und jenes zur Probe gefahren, bis Sie dann plötzlich auf einem Rad sitzen, bei dem Sie sicher sind: »Das soll es sein. Das ist das richtige für mich!« Und mit etwas Glück ist Ihnen auch schon einmal ein Mensch begegnet, bei dem Sie auf einmal und unvermittelt spürten: »Das ist der Mensch, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will!«
Solche Situationen nenne ich Evidenzerlebnisse. Evident ist etwas, das durch unmittelbare Anschauung überzeugt. Es bedarf keiner langen Argumentation, keiner besonderen Methode, keines Vorwissens und keiner Expertise, um etwas als evident zu erkennen. Wenn etwas evident ist, dann braucht es keine Prüfung und lange Analyse mehr. Wobei durchaus wahrscheinlich ist, dass Sie für die Wohnungssuche eine detaillierte Checkliste geschrieben haben. Darauf steht alles, was Ihnen wichtig ist: Lage, Größe, Preis, Ausstattung. Sicher haben Sie auch an das neue Fahrrad im Vorfeld konkrete Ansprüche über Sportlichkeit und Stabilität gestellt. Und möglicherweise hatten Sie vom Mann oder der Frau Ihrer Träume auch klare Vorstellungen, was Aussehen, Charakter oder Hobbys betrifft. Aber in der konkreten Situation hat man ein Evidenzerlebnis, bevor Sie auch nur den ersten Punkt Ihrer Checkliste in Erwägung gezogen haben.
Erst im Nachhinein gehen Sie die Kriterien einzeln durch und prüfen, ob das Evidente der kritischen Betrachtung standhält – wobei durchaus häufig vorkommt, dass einzelne reale Aspekte nicht den ideal erdachten Bedingungen entsprechen. Dann fängt man an, die Checkliste zu korrigieren, etwa indem man einzelnen Kriterien weniger Wert beimisst. »So wichtig ist mir bei dem Fahrrad ein stabiler Gepäckträger gar nicht. Denn so lange Radtouren mache ich eigentlich gar nicht, dass ich eine schwere Tasche transportieren müsste.« Oder indem man die negativen Punkte ins Positive wendet: »Es wäre zwar bequemer, wenn von der neuen Wohnung aus der nächste Supermarkt fußläufig erreichbar wäre. Aber mit dem Bus sind es nur zwei Stationen. Und es ist ohnehin viel gesünder, wenn ich mit dem Fahrrad hinfahre, dann mache ich gleich ein bisschen Sport.« Oder wir werfen die vielen guten Argumente in die Waagschale, um das eine oder andere Manko auszugleichen: »Okay, ich kann mit der Frau nicht über Fußball diskutieren, aber sie sieht toll aus, hat ein großes Herz und ist umwerfend klug!«
Denn bei allem, was wir tun: Worauf kommt es dabei an? Auf die Zukunft! Und eben nicht auf die Verlängerung des Erfahrenen. Nur ein Bürokrat handelt aus der Vergangenheit heraus. Der unternehmerisch veranlagte Mensch fängt immer neu an. Er handelt auf Grundlage von heute und dem, was er aus der Zukunft antizipiert – gestärkt mit den
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