Isch geh Schulhof: Erfahrung
mich beeilen, um rechtzeitig in meiner nächsten Klasse zu sein. So eine Pause ist schnell rum, und mein zweiter Auftritt geht bereits in einer Minute los. Diesmal in der 5b, wieder Mathe. Ob das noch schlimmer werden kann?
Als ich eintrete, begeben sich die Schüler unaufgefordert auf ihre Plätze. Ich gehe langsam zum Lehrertisch, lege meine Sachen ab und begrüße die Klasse.
Die Kinder antworten mir mit einem gut gelaunt klingenden »Guten Morgen, Herr Möller!«.
Wow. Die kennen meinen Namen bereits. Und können ihn sogar aussprechen! Nach ein paar Sekunden des Erstaunens habe ich mich rasch an die neue Situation gewöhnt. Schon nach kurzer Zeit sind wir mitten im Unterricht und lösen gemeinsam einige Aufgaben aus dem Mathebuch. Ich merke, dass es in dieser fünften Klasse ebenfalls viele leistungsschwache Schüler gibt, aber der große Unterschied zur 4e nebenan besteht in der Lernatmosphäre: Niemand feindet sich offen an, die Kinder stören den Unterricht nur sehr selten durch Zwischenrufe und lassen ihre Klassenkameraden ausreden, wenn diese dran sind.
Doch auch hier gibt es natürlich Problemkinder. Pasquale ist eines davon. Er sitzt in der ersten Reihe, direkt vor dem Lehrertisch, und hat auffällig mehr Fragen an mich als seine Mitschüler. Pasquale ist ungefähr einen Kopf größer als die anderen Jungs, hat eine tiefere Stimme und viele Pickel im Gesicht. Seine Bewegungen wirken etwas unbeholfen, und seine Mimik zeugt von wenig Selbstbewusstsein und jeder Menge Kummer.
»Herr Mülla«, jammert er, als ich in seine Nähe komme. »Isch versteh dis alles nich.«
Beim Anblick seiner müden Augen vergesse ich den Hinweis auf meinen richtigen Namen schnell und nehme mir etwas Zeit für ihn, da der Rest der Klasse gerade mit Rechnen beschäftigt ist. Nachdem ich ihm die erste Aufgabe mühsam erklärt habe, verrät er mir den Grund für seine Müdigkeit.
»Sch’war bis ölf wach jewesen«, sagt er kleinlaut und pult dabei am blutigen Nagelbett seines Daumens herum.
Seine Mutter sei schon vor ihm ins Bett gegangen, ohne sich darum zu scheren, dass er noch auf war. Auf die Frage nach seinem Vater fängt er vor Wut fast an zu heulen. Ich bin ratlos. Was soll ich dazu sagen? Immerhin habe ich genug damit zu tun, ohne Ausbildung als Mathelehrer zu arbeiten, aber ohne entsprechendes jugendpsychologisches Rüstzeug angemessen auf die Sorgen eines Frühpubertären einzugehen – das ist dann doch ein bisschen viel. Allerdings kann ich ihn jetzt auch nicht einfach so sitzen lassen, also wage ich einen Versuch. Ich erkläre ihm, dass Erwachsene eben arbeiten gehen müssten und sein Vater sicherlich lieber bei ihm wäre.
»Mein Vater hasst misch!«, schleudert mir Pasquale entgegen. »Und isch hasse ihn! Dieser …«
»Hey, schon gut«, beruhige ich ihn und lege ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. Dann erzähle ich ihm, dass ich mich in seinem Alter auch immer mit meinem Vater gestritten hätte.
»Wie alt bist du eigentlich?«, frage ich, um ihn etwas abzulenken.
»Dreizehn.«
Auch bei mir, erkläre ich, fing in diesem Alter der Pubertätsstress mit meinen Eltern an – dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits in der siebten Klasse war, behalte ich aber besser für mich.
»Nach dem Unterricht reden wir noch mal in Ruhe, okay?«, schlage ich vor. »Bis dahin hilft dir Angelina bestimmt mit den Aufgaben.«
Seine Sitznachbarin nickt verständnisvoll. In der restlichen Stunde gehe ich mit den Schülern die Lösungen der Aufgaben durch und versuche Unklarheiten nach Möglichkeit von den Kids klären zu lassen. Insgesamt läuft der Unterricht in der 5b so gut, dass ich neuen Mut schöpfe – vielleicht ist der Lehrerberuf ja doch nicht so anstrengend, wie ich noch vor einer Stunde vermutet habe …
Als die Glocke klingelt und Pasquale mit den anderen in die Pause rennen will, rufe ich ihn noch einmal zu mir. Er beteuert, dass es ihm schon besser gehe, ich weise ihn aber noch einmal darauf hin, dass er früher ins Bett gehen müsse.
»Klar, Herr Mülla«, verspricht er und rennt in die Pause.
Als ich aus dem Klassenraum trete, warten drei Mädchen aus der Klasse, die ich eben unterrichtet habe, auf mich: Nesrin, Gülem und Bü ş ra. Alle drei tragen moderne Kleidung, die weit vom Kopftuch-Look der kleinen Fatima aus der 4e entfernt ist. Im Gegenteil: Wahrscheinlich gehen sie regelmäßig shoppen und legen sich dabei den neusten Trend glitzernd-bunter Klamotten zu – selbstverständlich hauteng. Es
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