Jage zwei Tiger
Postleitzahl: NARVA Lichtquellen GmbH + Co. KG , Industriegebiet Nord, Erzstraße 22, 09618 Brand-Erbisdorf. Donnerwetter.
Der Einzige, der seine vorübergehend hier oben stattfindende Existenz als solche zu erkennen schien, war der Junge mit den zugeklebten Augen aus seinem Nachbarbett. Durch dessen Pflaster spürte Kai einen entlarvenden, zur Lampe gerichteten Blick. Majestätisches Grinsen. Irgendwie semidiabolisch bewegte der Junge seine Lippen, als wollte er sagen, dass er sterben wird. Dass sie beide sterben werden. Daneben, an Kais eigenem Bett, stand inzwischen auch sein Vater, körpersprachlich Signale der Abscheu und gleichzeitigen Scham über die ausbleibende alles überbrückende Liebe zu seinem Sohn aussendend, er ekelte sich vor ihm und er konnte nichts dagegen tun. Kai ekelte sich vor sich selbst, wie er da einer mächtigen, schwitzenden und unkontrolliert scheißenden Amphibie viel ähnlicher war als einem menschlichen Wesen. Bis er einen Nadelstich in seiner Armbeuge spürte, der ihn augenblicklich wieder in den unkomplizierten Zustand von psychischer und physischer Einheit versetzte. So uninteressant dieser Satz auch ist: Kai war wieder in seinem Körper. Er schlug die Augen auf und sah die Zimmerdecke, vor ihr ein paar leicht unscharfe, über ihn gebeugte Gesichter. Er machte die Augen wieder zu. Und rannte durch einen Wald, in dem Wissen, verfolgt zu werden und eine Grenze überqueren zu müssen zu einem anderen Land, welches, fern von allem, was ihm wichtig war, die einzige Chance bot, zu überleben. Er hatte diese Grenze fast erreicht, als er an der Schulter gepackt, umgedreht und dazu gezwungen wurde, in die leeren Gesichter zweier Männer in Uniform zu sehen. Einer von ihnen richtete seine Pistole auf ihn. Und obwohl er keinen Knall hörte, was er, sehr nüchtern und analytisch, seinen der Lautstärke wegen zerplatzten Trommelfellen zuschrieb, wusste Kai, dass er gerade erschossen worden war. Das Blut schnellte aus seinen Zehen- und Fingerspitzen hinauf in seinen Kopf, alles, was er hörte, war ein Bass, der sich aus seinem Herzschlag entwickelt hatte und zu mehrschichtigen Trommelrhythmen wurde. Der Wald drehte sich. Der Wald wurde langsam wieder das eierschalenfarbene Krankenzimmer, doch weder das Drehen noch das Trommeln hörten auf. Ein dynamischer Übergang zurück in eine von vielen Realitäten. Es dauerte zehn Minuten, bis der donnernde Beat leiser wurde und Kai wieder die Geräusche der Geräte vernahm, an die er angeschlossen war. Außer ihm war niemand im Zimmer, das Nachbarbett war leer, der Vorhang aufgezogen. Er wusste, dass die von der Fensterbank auf seinen Sauerstofftank springenden Disneyhäschen irgendwelchen medikamentenbedingten Halluzinationen zugeschrieben werden konnten – im Gegensatz zu dem, was er davor gesehen und erlebt hatte. Er konnte diese Zustände nicht neutralisieren mit dem, was man unter dem Begriff »Einbildung« verstand, war momentan jedoch auch zu erschöpft, um sich damit auseinanderzusetzen. Mit großem Kraftaufwand griff er nach der Fernbedienung auf seinem Nachttisch und schaltete den kleinen Fernseher ein, der in der gegenüberliegenden Zimmerecke hing, über zwei ebenfalls leeren, mit Plastikplanen bedeckten Betten. Dieser Vorgang nahm ungefähr zehn Stunden in Anspruch. Zuerst lief eine Dokusoap über eine potthässliche Millionärsgattin, die Schlagersängerin werden will und auf Kosten ihres Mannes ein Musikvideo dreht zum neuen Hit »Jetset«. Einige Aufnahmen von ihr im Rolls-Royce und an der Côte d’Azur, durchgängig mit Champagnerglas in der Hand und extrem guter Laune. Nach der Werbung dann weiter im Rhythmus der Freude, mit einer Auseinandersetzung der Probleme von Familie Meier-Rodriguez aus Berlin. Täglich fliegen da die Fetzen. Den Hartz- IV -Empfängern droht die Obdachlosigkeit, wenn sie es nicht schaffen, binnen drei Monaten eine neue Wohnung zu finden – obwohl diese neue Wohnung noch nicht in Sicht ist, macht sich Mutter Annette bereits jetzt auf die Suche nach Umzugskartons in Altpapiercontainern. Währenddessen will Vater Giacomo die häusliche Ruhe genießen, doch Sohn Dustin hat anderes im Sinn: Der Vierzehnjährige leidet an einer Hyperaktivitätsstörung, schließt seinen iPod an die Dockingstation und zertrümmert zu »Hey was geht ab« von DJ Ötzi die komplette Kücheneinrichtung. Kai konnte das nicht wissen, aber heute war sein zwölfter Geburtstag.
Die Krankenschwestern sahen uninteressant aus und hatten
Weitere Kostenlose Bücher