Jage zwei Tiger
zu dünne Stimmen und waren verwundert über Kais nahezu zynische Herangehensweise an die Verarbeitung des Verlusts seiner Mutter, der ihn so gut wie kaum zu tangieren schien. Er gab höchstens einige schmallippige, souveräne Statements von sich, zumeist unaufgefordert und dadurch jede weitere in Wochenendlehrgängen zum Umgang mit traumatisierten Kindern erlernte, subtile Annäherung des Personals unterbindend, beispielsweise »Mir steht eine harte Zeit bevor, aber ich muss positiv denken« oder die bewusst provokante, auswendig gelernte Formulierung »Natürlich hat das Bild dieser aus dem Leben gerissenen, blutüberströmten Frau eine tiefe Narbe auf meiner Seele hinterlassen, aber gerade deshalb muss man so eine Situation als krasse Chance sehen«, oder, wenn er überhaupt keinen Bock mehr hatte, eine von ihm erwartete Naivität und Offenheit zu performen, und vor allen Beteiligten konkretisieren wollte, dass er keinen Einzigen von ihnen genug mochte, um auch nur das kleinste bisschen dessen mit ihnen zu teilen, was er wirklich empfand – dann sagte er, er habe seine Mutter sowieso gehasst. Und sich ihren Tod gewünscht. Er wusste, dass sie ihm das nicht verübelt hätte. Es galt ausschließlich dem Schutz davor, zu einer bemitleidenswerten Projektionsfläche sensationsgeiler Idioten zu werden, die seine Geschichte mit der allgemeinen Vorstellung von »Liebe« und »Tragik« entkräften würden.
Sein Vater verhielt sich okay. Die ersten Tage nachdem Kai aufgewacht war, saß er fast durchgehend und ohne ein einziges Mal sein graues Armanihemd zu wechseln an Kais Einzelzimmerbett, erkennbar gelangweilt und unter Druck gesetzt und definitiv nicht aus einer emotionalen Ambition heraus, trotzdem liebevoll genug, die Bereitschaft zu demonstrieren, deren Anschein aufrechtzuerhalten. Kai sah fern oder schlief, sein Vater las Zeitung oder telefonierte oder rauchte am Fenster, was beide lächelnd als Rebellion gegen lebenserhaltende Maßnahmen und die Glorifizierung der puren Biologie betrachteten. Eine verbindende und familiäre Zugehörigkeit wurde da demonstriert zu einer nur in der Illegalität und der Aufrechterhaltung kultureller, selbstzerstörerischer Gesten überlebenden, hochreflexiven Punkfraktion. Dieser schwerstattraktive Eins-neunzig-Typ in den besten Jahren, auf eine interessante Weise nicht erwachsen geworden und gleichzeitig enorm zerfurcht von der schweißtreibenden Gleichzeitigkeit seines Business und der von diesem und voneinander fernzuhaltenden Frauen unterschiedlichster sozialer Schichten und Altersstufen, alle leider, leider wahnsinnig verliebt in ihn – während er seinem Sohn Happy Hippos auf den Nachttisch stellte und sich mit ihm über das Buch Spinne, der Torwart unterhielt, dachte er an die chirurgisch optimierten Schamlippen seiner einundzwanzigjährigen Affäre Isabell, Philosophiestudentin, und schämte sich.
Die beiden redeten kaum, schon gar nicht über die bevorstehende Intensivierung ihrer Blutsbeziehung. Als Kai in ein Vierbettzimmer verlegt wurde, verkomplizierte sich die Situation in eine die emotionalen Innenwelten seines Vaters offenlegende Richtung, praktischerweise eine Informationsgrundlage bietend für das, auf was sich der Junge, flexibel wie man ist in dem Alter, würde einstellen müssen. Zwei der anderen Betten waren belegt, von einem schlafenden kleinen und einem gerade im Aufenthaltsraum vermutlich Mandalas gestaltenden großen Jungen. Er hatte die beiden dementsprechend noch nicht kennengelernt. Kais Vater saß auf einem Stuhl neben seinem Bett und war in einen Artikel über weiße Quallen und deren Status als Nahrungsmittel der Zukunft vertieft, gleichzeitig auch in die Frage danach, wie er den zwei Meter großen Eisblock einer von ihm betreuten Künstlerin zur Marrakesch Biennale transportiert bekäme. Zumal diese Künstlerin sehr gut bzw. wie eine nordische Beduinin aussah und trotz ihrer idealistisch, politisch aktiv und feministisch strukturierten Fassade (der Eisblock beispielsweise spiegelte das Verhältnis afrikanischer Nomadenvölker zu deren Siedlungsgebieten wider, eine aus zwei Vasen mit schlechtgelaunten Gesichtern bestehende Arbeit von vor vier Monaten die baldige Abschaffung des Y -Chromosoms usw. usf.) in ihrer ganzen vulgär ausgespielten Blondheit schlussendlich doch nur eins wollte, nämlich gefickt werden, möglichst im Hôtel de Paris in Monaco.
Kai fragte ihn, was genau eine Städtepartnerschaft sei. Ihn beschäftigte das seit seiner
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