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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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würde, als Kind behandelt zu werden. Erinnerst du dich an diese Kugelblitze, mit denen du dich im Alter von fucking drei Jahren beschäftigt hast? Du hast mir auf die Mailbox gesprochen, stundenlang, irgendwas über kugelförmige Leuchterscheinungen.«
    »Ja, ja, blabla.«
    »Oder daran, wie du mit sechs bei mir zu Hause vor dem Fernseher saßt und dieser grauenhafte Horrorfilm lief, Angriff der Killerameisen , und du, anstatt heulend von dannen zu ziehen und kolossale Schäden davonzutragen, plötzlich seelenruhig angefangen hast zu erklären, wie bewundernswert die Special Effects sind?«
    Kai zuckte mit den Schultern. Er erinnerte sich nicht, jemals bei seinem Vater zu Hause gewesen zu sein. Aber das musste wohl stimmen, denn sein Vater log nie. Er konnte es einfach nicht. Binky hatte immer erzählt, dass er, wenn er in einer Notsituation zu der geringsten Unwahrheit gezwungen wurde, sofort rote Flecken im Gesicht bekommen habe. Einmal seien die beiden bei der Witwe ihres Onkels eingeladen gewesen; und zehn Meter vor deren Haustür fiel Binky plötzlich auf, dass sie vergessen hatten, Blumen zu kaufen. Sie wollte dieser Frau dann höflichkeitshalber die Lüge auftischen, dass sie den riesigen Blumenstrauß auf dem Autodach liegengelassen hätten, eingestiegen und losgefahren seien und sich das Arrangement dementsprechend nun, im hohen Bogen aus dem Parkhaus geschleudert, in der Innenstadt befände. Doch als sie gerade mit der detaillierten Schilderung einer zweistündigen Suchaktion begonnen hatte, die ihr noch spontan als plausibilitätssteigernde Legitimierung für die Verspätung eingefallen war, merkte sie plötzlich, dass Tante Christiane gar nicht mehr zuhörte, sondern mit offenem Mund Binkys neuem Boyfriend dabei zusah, wie er in einen Ohnmachtsanfall zusammensackte und dabei drei ihrer Setzkästen von der Wand riss. Na ja. Dieses physisch bedingte Bedürfnis nach Ehrlichkeit sei dann wohl auch einer der vielen Gründe für die sogenannte Trennung gewesen, aber sie hätten sich sehr geliebt.
     
    Die Krankenschwester fragte: »Was genau hat Kai denn eigentlich gemacht gerade?«
    Kai: »Ich habe ihn angespuckt.«
    Schockiertes Hochziehen der Augenbrauen von Seiten der Schwester. Sein Vater stöhnte laut und sagte:
    »Er hat mich nicht einfach angespuckt. Das war kein Affekt. Das war, keine Ahnung, ich würde fast sagen: kalkulierter Mord. Er hat die Spucke sozusagen erst mal genüsslich gesammelt und sie dann, in einem langen Spuckefaden, auf mein Bein tropfen lassen. Genau auf den Hautstreifen zwischen Socke und Hose.«
    Und Kai sagte: »Aber nur, weil ich ihn vorher angetippt und zweitausend Mal gerufen habe und er einfach nichts gehört hat und ich ihn dringend was fragen musste.«
    »Was musstest du mich denn fragen?«
    »Was eine Städtepartnerschaft ist.«
    Kurzes Schweigen.
    »Klingt bescheuert, aber es interessiert mich wirklich.«
    »Na ja«, antwortete der Vater dann, von einer Sekunde auf die andere wieder gefasst und als wäre das Drama des vorangegangenen Hardcorekonflikts tatsächlich einem Interesse an der bestmöglichen Erläuterung des Begriffes Städtepartnerschaft gewichen: »Da ist dann halt irgendwie, was weiß ich, Warschau verbunden mit Hamburg oder so, und dann stellen die sich gegenseitig ein Denkmal hin und tauschen Schüler und Studenten aus und solche Sachen. Auch mit Förderprojekten, und am Ortseingangsschild steht dann eben noch zum Beispiel die Partnerstadt ganz klein drauf. Wieso?«
    »Weil das mal vorkam in einer Teufelskicker -Folge, wo Henri von der Schule fliegen sollte und dann alle Geld sammeln wollten und … scheiß drauf, ist zu schwer zu erklären.«
    Wie dem auch sei.
    Der Vater, er trägt übrigens den denkbar unpassenden Namen Detlev, ging dann kurz noch raus, um einen Kaffee zu trinken, und die Krankenschwester lief ihm hinterher, aber vorher sagten sich Detlev und Kai noch, dass sie sich lieb hätten, was beide auch zum ersten Mal halbwegs ernst meinten.
    Als die Erwachsenen das Zimmer verlassen hatten, hörte Kai plötzlich eine sehr hohe Stimme fragen, ob er das Fenster wieder schließen könne. Sie gehörte seinem Zimmergenossen, der von dem ganzen Exzess wach geworden war und jetzt aufrecht in seinem Bett saß mit bis unter das Kinn gezogener Decke und hellgrauen Augen, die ins Nichts starrten. Der Junge hieß Leo.
    Leo war neun Jahre alt, von Geburt an blind und während der Herbstferien, im Rahmen einer Integrationsmaßnahme für behinderte Kinder, vom

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